Revierkönige (German Edition)
Freunden gegenüber, immer achtsam, in welcher Gegend sie sich aufhielt. Manche Gegenden waren tabu, da gab´s nichts. Selbst als sie schon 15 oder 16 war und ihre besten Freundinnen in die Jugenddisco oder auf die Feten ihrer Klassenkameraden gehen durften, blieb das so, wenn das nicht in einer halbwegs akzeptablen Wohnzone lag. Nein, unsere Vera nicht, sagte man. Tauchte ein neuer Name auf, kamen die alten Fragen, manchmal reichte ein Blick: Sind die aus vernünftigem Haus? Was macht der Vater? Wo wohnen die? Südstadt und Westen waren in Ordnung, im Norden und Nordosten, da wohnten zu viele Asoziale und Ausländer, da war die Luft schlechter, da waren die düsteren Spelunken, Dreck, Nutten, Verhaschte, davon musste man die Tochter fernhalten. Die Mutter, im Grunde ihres Herzens weder streng noch spießig, war in dieser Hinsicht vollkommen der Meinung ihres Mannes. Von weitem betrachtet, hatte sie Ähnlichkeit mit einer der B 52-Sängerinnen. Näher betrachtet bekam ihre Nase etwas Spitzes, ihr hellbraun geschminkter Mund eine säuerliche Dünnlippigkeit. Als sich die erste Falte tief zwischen ihre gezupften Brauen grub und da blieb wie ein Mahnmal, besuchte sie einen Yoga-Kurs. Wegen ihres verspannten Rückens, wie sie meinte, aber eigentlich war es dieser Keil der Unzufriedenheit auf ihrer Stirn. So fing es an. Es vergingen ein paar Jahre – mittlerweile wohnten sie in München – und sie hielt Predigten über die Ära des Wassermann-Zeitalters. Mutter Heidrun probierte alles Mögliche, kaufte sich einen Haufen esoterischen Klimbim und wirkte neben ihrem kühlen, eleganten Werner manchmal peinlich. Dennoch: sie wurde lockerer, umgänglicher und bat ihre Tochter, sie doch Heidrun zu nennen. Heutzutage fand sie Spirituelles nicht mehr so interessant, es waren mehr die Spirituosen, die es ihr angetan hatten.
Aber sie, sie blieb Papas Töchterchen, und dieses Wesen zog jetzt unwillkürlich den Kopf ein. Aber sie, sie war nun erwachsen genug, um sich aufrecht zu halten, liebte ihren Vater nicht und verspürte sogar eine leise Genugtuung, weil er nie erfahren würde, was sie tat: ohne Sicherheitskontrolle in der Nacht herumirren. Wie hasste sie die Ängste, die man ihr beigebracht hatte. Sie steuerte auf eine Telefonzelle zu, zögerte aber. Und wenn keiner abhob? Vor dem Hauptbahnhof stritten sich zwei Besoffene, ein Penner schlief zwischen Stoffbündeln und Zeitungen in einer Ecke, eine Gruppe von drei Männern und einer Frau stand um einen alten Mercedes herum. Verhandelten die? Sie ging schnell vorbei, alles nicht wichtig, denn sie sah bereits die schwarzen eisernen Bögen der Unterführung, die Ränder eines immer weit aufgerissenen Mauls, aus dem Geräusche schallten.
Jetzt war sie drin, war dort, was sie „unten“ nannte, spürte den Sog und konnte nicht rennen, wie im Traum, wenn man in Gefahr ist und nicht wegrennen kann. Alle Geräusche der Welt waren hier unten gefangen, Stimmen tönten, Autos rasten vorbei, etwas quietschte, ein Zug fuhr über ihrem Kopf; das Licht war von einem schmutzigen Orange, ein tückisches Licht, das nicht erhellte, sondern verzerrte, den Graben hinter dem Geländer rechts von ihr noch dunkler machte; da unten, wo die vernieteten Eisenstreben aus dem Boden wuchsen, gemauerte Halbbögen, die das schwärzeste Schwarz umrahmten, das Versteck, das Schlimme, das Schreckliche, nur nicht hinsehen, nicht den Arm ausstrecken, nicht stehen bleiben, geradeaus auf das Ende der Unterführung blicken. Ist doch alles halb so schlimm, da ist doch nichts.
Die Straßenbahn, mit der sie immer in die Stadt fuhren, die 5, die fuhr hier früher mittendurch. „Mama, was ist da?“, fragte das Kind ängstlich. „Wo denn, Schatz?“ „Daa!“ Mit ihren kleinen Fingern deutete sie in Richtung der dunklen Seitenränder hinter den Fußgängerstreifen. „Wo denn? Da ist doch gar nichts.“ Verzweifelt drückte sie den Zeigefinger gegen die Scheibe, die Bahn fuhr zu langsam, sie riefen sie, Hände und Arme kamen zum Vorschein, auch Müll lag da unten, wie tief ging das runter, und was wäre, wenn die Straßenbahn nicht mehr weiterführe und sie aussteigen müssten .... „Die Menschen da.“ „Menschen! Da ist niemand, Vera!“ Sie vergrub ihren Kopf im Pullover ihrer Mutter und fand keinen Trost. Sie wusste, dass sie mit den Wesen da unten allein bleiben musste. Jedes Mal, wenn sie aus ihrem tristen Vorort in die Stadt fuhren und hier vorbeikamen, musste sie es ertragen. Es gab sie: winkende Hände,
Weitere Kostenlose Bücher