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Revierkönige (German Edition)

Revierkönige (German Edition)

Titel: Revierkönige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Gerlach
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beschissen, dass er sich nicht erinnern konnte, sich jemals so gefühlt zu haben. An seinen Händen klebte ein Schmier aus halb getrocknetem Blut und Schmutz, auf dem neuen Hemd waren dunkle feuchte Flecke. Mein Blut, dachte er, mein Blut .... Er ging ins Badezimmer und öffnete mit einer Hand den Spiegelschrank, wobei er auch hier Blutspuren hinterließ. Sie machten sich gut da. Er kramte zwischen alten Medikamenten herum, fand aber nichts für seinen Fall. Er fand sich ungesund blass, als er sich so betrachtete. Aber langsam verflog der Schock. Er merkte, wie er sich beruhigte, obwohl sein Herz noch wild gegen die Brust und hoch bis zu den Mandeln schlug. Er betrachtete seine zu einem roten Wulst angeschwollenen Oberlippe und sprach: „Daf if dein Bnut, Schpage, dein Bnut!“ Dann haute er mit der Faust vor das Spiegelschränkchen. Drinnen klapperte es, mehr tat sich nicht.
    Schließlich zog er sich aus und rollte sich umständlich, seine gemarterten Knochen ordnend, in die Bettdecke ein. Vera sollte kommen, wo war sie?, er wollte mit ihr zusammen sein. Vera sollte schnell kommen und sich mit ihrem warmen, festen Körper neben ihn legen, ihn berühren. Er merkte, wie sein Penis anschwoll. Er teilte sich in zwei Rümpfe – einen oberen, in dem der Schmerz pochte und die Brust rasselte, und einen unteren, gierigen. Da sollte sie ihn berühren, sich auf ihn setzen ... Mit diesem Gedanken dämmerte er weg.
     
     
    Sie lief einfach ins Dunkel hinein und sah sich selbst dabei zu. Jetzt, da sie unterwegs war, musste sie auch weitergehen. Sie mochte diese Stadt nicht. Es war ein langer Weg, der einzige Weg, den sie kannte, und mitten drin, gleich hinter dem Bahnhof, lag das Objekt ihrer kindlichen Alpträume: die große Eisenbahnunterführung. Sie war die Mutprobe, ein böses Tier, das es zu besiegen galt, sonst kam man nicht weiter, wie im Märchen.
    Sie benahm sich einfach kindisch, sie war doch bescheuert! Man musste realistisch sein, alte Ängste sind alt und zu überwinden, nur ein Hindernis auf dem Weg zum klaren Denken. Einfach nicht die Bilder ins Gedächtnis rufen. Bilder von Gemarterten und Aussätzigen, von halb verwesten Leibern, die im schwarzen Graben die Hände ausstreckten. Man brauchte ja bloß nicht hinter die Absperrung zu kucken, wo sie klagten und riefen ...
    Es war halb drei vorbei, sie fröstelte in ihrer dünnen Windjacke. Warum hatte sie nicht mehr Geld mitgenommen, um sich ein Taxi zu rufen? Für alle Fälle, hätte ihr Vater gesagt. In diesem Fall. Was war das für ein Fall? Wenn sie das wüsste. Sie rannte doch sich selber fremd durch diese Geschichte. Damit rechnet man doch nicht, dass ein Abend so endet. Sie hätte damit rechnen können. Bestimmte Dinge ändern sich nicht, nur weil man sie gern anders hätte. Durch Wunschdenken gehen keine Wünsche in Erfüllung. Also war es doch wieder wie damals, als so viele Missverständnisse die Freude durchschnitten. Zwei Liebende, die nicht dieselbe Sprache sprechen und sich nicht verständigen können, außer durch ihre Sehnsüchte. Außer durch die Attraktivität des Unbekannten. „Wir passen absolut nicht zusammen“, hatte Olaf gesagt. Aber das Unbekannte blieb attraktiv.
    Am Anfang, als sie sich trafen, da tranken sie immer so viel und so lange, bis sie sich aneinander gewöhnten. Ihr selbst waren solche Mengen fremd, doch ihre Nervosität schien die Wirkung aufzuheben, ihre Nervosität war es, die sie betrunken machte. Jetzt dachte sie: Situationen wiederholen sich, wie in einem immer wiederkehrenden Traum. Das musste vielleicht so sein, damit man da wieder anknüpfen konnte, wo man aufgehört hatte, an eine Vergangenheit, die keineswegs eine gemeinsame war, aber doch eine Vergangenheit, denn es gab die Erinnerung an gewisse Stunden. Und die war tiefer, viel tiefer als so manches.
    Vera ging schnell, Vera lief durch die Stadt, die sie nicht haben wollte. Mit dem Freese war sie einen kürzeren Weg gegangen, aber den würde sie nicht mehr finden. Sie hatten sich ja die ganze Zeit unterhalten, nett unterhalten, die Straßen, durch die sie gingen, interessierten sie nicht. Für sie sahen sie alle gleich aus: Häuserzeilen mit Autozeilen davor, an jeder zweiten Ecke eine Kneipe, an jeder dritten Ecke ein Imbiss oder Grill, um den noch Schwaden von verbranntem Fett hingen. Was machte sie hier? Vera irrte durch die Gegend. Wenn ihr Vater sie jetzt sehen würde, seine Vera.
    Ihr Vater, das Warnsignal ihres Lebens, immer kritisch ihren Bekannten und

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