Revierkönige (German Edition)
zu ihr, er tat alles Mögliche. Abstand halten, es auskosten, Alter.
Es war nicht mal zehn Uhr, als sie sich ins Bett begaben. Da war sie wieder, diese veraeigene Hingebung, diese Aufrichtigkeit, die ihm Angst machte, weil er sie immer dafür lieben müsste. Wie ein ewiges Abtragen von Schuld ihr gegenüber.
Der Traum, aus dem Olaf Keune nicht aufzuwachen brauchte, ging weiter, aber es hatte ein anderes Kapitel begonnen. Oder ein anderer Traum. Manchmal wusste man, während man träumte, dass man nicht mehr im selben Traum war, sondern in dem folgenden. Zurück zum vorherigen Traumgefühl konnte man nicht mehr, so sehr man sich auch bemühte. So wie man aus der Gegenwart nicht mehr in die Vergangenheit zurückkonnte. Olaf arbeitete jetzt bei einer Versandfirma. Bestellte Ware in Pakete packen und einladen, ein Scheißjob mit stumpfsinnigen Kollegen, die darauf warteten, dass er sich auf deren Stufe begab, und eine halbe Stunde Fahrt mit der S-Bahn. Er nahm das in Kauf, er war diese Geldknappheit leid, das hatte so was Armseliges, hatte was von Leuten, die mit schmachtendem Blick vor den Schaufenstern standen, voller Selbstmitleid, fast beleidigt, weil es immer andere waren, die sich das leisten konnten, nur sie nicht. Das war unwürdig, fand er, armselig und unwürdig und erinnerte ihn an früher, an seine Eltern.
Er begann um sieben Uhr, das war zwar hart, dafür war er gegen Mittag schon wieder zu Hause. Vera freute sich, als Olaf den Job bekam, nörgelte aber bald schon, dass andere Arbeitszeiten ja besser wären. Klar, wenn er um kurz vor sechs aufstand, wachte sie auf, wo sie doch bis acht schlafen konnte, aber es war nun mal so. Dann meinte sie, dass er so früh wieder da wäre, sie hätte nicht mal ein bisschen Zeit für sich.
Der Traum war blasser geworden, aber noch träumte es sich. Die Liebe war eine Last, die man gerne trug, auch wenn ihr Gewicht zunehmend schwerer wurde. Er hatte das begriffen, meinte er. Und weil Olaf Keune so stolz darauf war, weil er ihre Liebe vor sich hielt wie ein entzückendes Bild und es mit sich herumtrug und allen zeigte, ertrug er Dinge, die er sonst unter keinen Umständen ertragen hätte. Oh, hier spielten sich zwischen Menschen die gleichen Mickrigkeiten ab wie an irgendeinem anderen Ort auch! Eines Morgens betrachtete er Veras Gesicht und fragte sich erschreckt, wie lange eigentlich dieser missmutige, bekümmerte Ausdruck schon darauf lag. Die Frage machte ihn traurig, machte ihm auch Angst. Sie kam maulig aus dem Badezimmer und setzte sich an den Frühstückstisch ohne ihn anzusehen. Sie wirkte verkniffen und erinnerte ihn an den schmallippigen, unzufriedenen Mund ihrer Mutter, und ihre abweisende Art erinnerte an ihren Vater und dessen beige Lederslipper, die ihm diesen Mann für immer unsympathisch machten. So war Olaf nun mal. Es waren die scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten, die eine klare Sprache sprachen und die manchmal zu großen Entscheidungen und harten Urteilen führten.
Wann hatte sie eigentlich zum letzten Mal gelacht, gelächelt? Er machte sich innerlich bereit, ihr später die Meinung zu sagen und sie in ihre Schranken zu weisen, so ging das nicht weiter. Sie bestrich ein halbes Brötchen mit Butter, ließ es dann auf dem Teller liegen und trank aus ihrer Milchkaffee-Bol. Sie seufzte ein paarmal und blickte an seinem Gesicht vorbei, hin zu einem gerahmten Foto, auf dem eine rumänische Bauernfamilie zu sehen war. Es hatte bei einem Wettbewerb den zweiten Preis bekommen. Er sah sie an. Ihr Gesichtsausdruck und ihr Schweigen, eine unerhörte Kombination, die in ihm niedrige Instinkte und fiese Gedanken weckte, die zu benennen eindeutig zu weit führen würde.
Vera warf plötzlich ihre Stoffserviette hin, stand auf und räumte ihr Geschirr weg. Olaf starrte sie fassungslos an.
„Sachma, haste schlechte Laune, weil heute Samstag iss?“
„Wieso soll ich schlechte Laune haben, weil heute Samstag iss?“
„Vielleicht, weil ich heute nich arbeite, was weiß ich! Kuck dich ma im Spiegel an, was du fürn Gesicht machst. Ej, ich bin noch nich fertig mit Frühstücken und du stehst einfach auf.“
„Oh, machen wir jetzt einen auf gute Erziehung?“
Er schleuderte sein angebissenes Brötchen auf den Teller zurück, so dass die Scheibe gekochter Schinken auf die Tischdecke fiel – überhaupt, was diese bescheuerte Tischdecke sollte –, wischte sich den Mund ab und stand auf. Er zog seine Schuhe an, nahm seine Jacke, sagte nicht zu laut, aber noch
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