Revolution - Erzählungen
dich hier nicht haben. Am nächsten Ersten bist du verschwunden«, erklärt sie und geht. Inzwischen habe ich herausgefunden, wie es funktioniert. Ich gehe ins Use it im Jungendzentrum Huset in der Magstræde. Dort gibt es einen Zimmernachweis, mit deren Hilfe finde ich ein anderes Zimmer in Frederiksberg; ganz oben unterm Dach des ältesten Hauses im Stadtteil. Es hat Zentralheizung, im Zimmer steht ein Riesenheizkörper. Allerdings besteht der Raum in Wahrheit nur aus Bretterwänden, und der Wind pfeift durchs Dach und die Wände. Ich erkälte mich. Und ich mag mir auch nichts kochen. Zu Hause habe ich es nicht gelernt, und jetzt kann ich endlich selbst bestimmen, wann ich essen will – allerdings habe ich nie besonders gern gegessen. So ist es nun mal. Und dann vergesse ich es oder lasse es, und irgendwann bei der Arbeit falle ich einfach um, weil ich zu lange nichts mehr gegessen habe; außerdem befinde ich mich fast in einem Schockzustand, weil ich total einsam bin. Das erste halbe Jahr in Kopenhagen ist das reine Elend. Wenn ich nicht arbeite, schlafe ich.
Eines Tages schneit es, und ich denke an meine älteste Schwester in Brønshøj. Eigentlich würde ich sie gern einmal wiedersehen. Ich nehme den Bus, und als Erstes erklärt sie mir, dass ich am Seepavillon oder im Damhuskro einen Freund finden könnte.
»So habe ich das gemacht, da kommen immer sehr viele Handwerker«, sagt sie.
»Wer sagt, dass ich einen Handwerker zum Freund haben will?«
»Ich versuche nur zu helfen.« Ich trinke meinen Kaffee aus, verabschiede mich und ziehe den Mantel an. Als ich gehe, kommt ihr Maurer nach Hause.
»Hast du einen Freund gefunden?«, lautet seine erste Frage. Das ist offenbar die gemeinsame Ebene.
»Nein.«
»Ich kenne da einen Elektriker, der in Grönland gearbeitet hat«, sagt der Maurer. »Ihm gefallen grönländische Mädchen.«
»Ah ja?«
»Kochst du genauso gut wie deine Schwester?«
»Ich kann überhaupt nicht kochen.«
»Hm«, sagt er.
»Adieu!«, grüße ich und stapfe durch den Schnee davon.
Hippies
Das Frühjahr kommt, und die Stadt öffnet sich für mich. Den ganzen Winter bin ich wie ein Zombie durchs Ministerium gelaufen und habe enorm viel geschlafen. Nun gehe ich auf die Fußgängerzone Strøget. Straßenhändler, Zauberkünstler und Musikanten – Straßenleben. Ich bleibe stehen und starre auf die Gitarre eines Mannes.
» You like my guitar ?« Ich sage ja und frage, ob ich sie ausprobieren darf; ich überrasche ihn mit einer dänischen Volksweise, die mein Vater mir beigebracht hat.
»Dulcimer Chuck aus San Francisco«, stellt er sich vor und gibt mir die Hand.
»Sofie aus Grönland.« Er spielt auch auf einem vierseitigen Instrument aus den Appalachen, das Dulcimer heißt. Wir gehen ins Huset und hinterher in Sofies Keller, trinken Bier und reden; am nächsten Tag treffen wir uns wieder, und schon bald liegt er in meinem Bett.
Chuck erzählt, dass er in West-Tennessee aufgewachsen ist, er hat georgische Vorfahren und ein Achtel indianisches Blut in sich, denn sein Urgroßvater, ein Pferdedieb, hat eine Cherokee-Squaw geheiratet.
Ich erzähle ihm, ich sei Grönländerin, vermischt mit Seeleuten, Walfängern, Entdeckungsreisenden, Händlern und Missionaren. Und ich nehme ihn nicht einmal auf den Arm, als ich das erzähle.
»Das Blut reist in der Welt herum, um neues Blut zu finden und sich zu vermischen«, erklärt Chuck und greift nach mir. Dann vögeln wir noch einmal. Es ist schön.
Durch Chuck lerne ich all die anderen Straßenmusiker kennen. Meist Ausländer: Amerikaner, Franzosen, Deutsche, Italiener und alle möglichen anderen Nationalitäten. Ich bin glücklich. Ich habe wieder Freunde. Es ist lustig, eine richtig gemütliche Hippiestimmung. Ich kaufe mir eine gebrauchte Gitarre und fange an, mich an die Lieder zu erinnern, die mein Vater mir als Kind beigebracht hat. Die Beziehung zu Chuck hält nicht sonderlich lange, aber wir bleiben weiterhin gute Freunde, doch jetzt bin ich dabei, und es gibt jede Menge anderer Hippies, darunter natürlich auch sehr viele Dänen. Das ist unerfreulich. Die dänischen Hippies sorgen für die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich habe davon geträumt, sie kennenzulernen, seit ich die ersten Fotos der Blumenkinder in den Illustrierten meiner Mutter in Grönland sah. Auf der Schule sagte ich mir, nur kleinbürgerliche Rotznasen sind dumm und voller Vorurteile. Aber die Hippies sind genauso. Ich sitze am Tresen in Sofies Keller und
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