Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
mein Gott. Carla. Sie sieht entsetzlich aus, völlig verzottelte Haare, zerzaustes Gesicht, sie hat immer noch das dünne Kleid von vorgestern an, sie riecht nach Straße, aber sie strahlt. Ich kann es kaum fassen, dass sie hier ist, ich glaube es nicht, ich halte sie im Arm und schaue sie immer wieder an, und ganz langsam begreife ich, dass es ihr gut geht und alles noch dran ist.
»Oh Mann«, sage ich, »oh Mann. Wo warst du?«
»Ich war mit Scott und James unterwegs!«, sagt sie, stolz.
»Wer ist Scott?«, frage ich. »Und wer ist James?«
Sie legt den Kopf schief und zieht zwei Typen zu sich ran, einen links, einen rechts, und sagt: »Das hier. Das sind Scott und James.«
Scott und James sind zwei krasse Schränke. Sie sind groß, rothaarig, sie tragen dicke Sweatshirts und Celtic- Glasgow-Schals, und sie sehen absolut identisch aus. Scott hat eventuell ein paar mehr Sommersprossen als James, und er ist auch einen Tick hübscher, wenn man angesichts dieser Vierschröter überhaupt von hübsch sprechen kann. Aber sie sehen sehr lustig aus, das muss ich ihnen lassen.
»Hey ya«, sagen sie fast gleichzeitig.
»Hey, you«, sage ich etwas irritiert und werfe Carla einen Frageblick zu.
»Scott ist mein neuer Freund«, sagt sie und küsst ihn, und er erdrückt sie fast dabei. Aha.
»Ich konnte Donnerstagnacht nicht schlafen«, sagt Carla, »und da bin ich irgendwann wieder aufgestanden und noch mal los, und dann hab ich die beiden auf dem Kiez getroffen, sie sind mit einem Schiff gekommen, aus Glasgow, aus Schottland, weißt du, aus Schottland!«
»Mhm«, sage ich. Denkt sie jetzt, nur weil ich eventuell irgendwo in meiner amerikanischen Familie schottische Vorfahren habe, hilft mir das dabei, die Schränke sofort prima zu finden?
»Und?«, frage ich.
»Wir hatten eine Supernacht und einen tollen Tag«, sagt sie, »und dann hab ich bei den Jungs im Hotel geschlafen und, na ja, du weißt ja, wie so was läuft, Schätzchen.«
Weiß ich nicht, ist aber auch egal, solange sie glücklich ist und am Leben, und das ist sie wohl.
»Bier?«, fragt sie.
Scott und James nicken, ich lehne ab, ich denke, es war genug in den letzten Tagen.
Mir wäre eher nach einer Tasse Tee, aber das will ich so nicht sagen.
Carla geht Bier holen, das Spiel fängt gleich an, und ich beginne langsam, mich insgesamt wieder besser zu fühlen.
»Uuuhh«, sagt James, und Scott sagt: »Uuuhh, we absolutely luuuuuv football.«
»Yeah«, sagt James, »we are football crazy, uuuhh, yes, we are.«
Mir kommt das alles ziemlich merkwürdig vor, aber am Ende verliert Sankt Pauli wieder mal in letzter Minute und kann eigentlich wieder mal gar nichts dafür, und ich würde sagen: Meine Welt ist in Ordnung, wenn auch in einer etwas anstrengenderen Variante als sonst.
Zu Hause schaffe ich es nicht mal mehr, das Licht anzumachen. Ich kicke meine Stiefel weg, lasse meinen Mantel, meine Jeans und meinen Pullover auf den Fußboden fallen, meinen müden, alten Körper ins Bett und meine kranke Seele in einen tiefen, dunklen Schlaf.
Das Klopfen an meiner Tür höre ich zwar noch, aber es ist so weit weg, so viele hundert Kilometer entfernt, und ich weiß, dass Klatsche auch ohne mich klarkommt, und kann einfach nicht mehr und tauche ab.
Du sollst einschlafen hab ich gesagt aber sie wollte nicht sie hat die Augen nicht zugemacht nicht ganz sie hat mich gekratzt und sie war unfreundlich sie hat nicht verstanden dass es nicht geht wenn sie nicht schläft das war nicht gut von ihr ich wollte ihr nicht weh tun aber sie hat immer weiter gekratzt und wie soll ich es denn machen wenn sie die ganze Zeit kratzt und dann hab ich sie festgehalten und die Kette um den Hals gemacht und dann hat sie doch geschlafen wie ein Engel mit dem rosa Haar und dann hab ich sie an den Strand gelegt wie einen Engel dann konnte sie sich ausruhen das war ja anstrengend und das hat ihr sehr gut gefallen am Strand
Sonntag:
Kielholen
I ch stehe in einem winzigen, dunklen Raum. Mein Vater steht neben mir, er ist doppelt so groß wie ich, und er hält meine Hand. Wir sind alleine. In dem Raum ist ein dumpfes, nebliges Dröhnen, das an meinem Körper zieht. Ich spüre, wie etwas näher kommt. Direkt vor uns öffnet sich eine Tür in der Wand, hinter der Tür öffnet sich ein schmaler Gang, ein merkwürdig warmes und zugleich fahles Licht fällt herein. Die Hand meines Vaters wird unruhig, sie fängt an zu zittern und verschwimmt, sie wird weich und haltlos, sie verliert ihre
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