Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
lange das Gefühl, dass ich da etwas hätte finden können, was es in meinem Leben nicht gab. Die Hoffnung war dann natürlich auch hin.
Was soll’s. Letztlich ist alles ganz okay, so wie es ist. Und zumindest habe ich aus Bellehaven viel Wissenswertes mitgenommen: 1. Wer keine Heimat hat, muss sich eine suchen. 2. Deine Verwandten sind nicht immer die beste Familie, die du kriegen kannst. 3. Das River Forest Manor ist das schlimmste Hotel der Welt.
Ich laufe und laufe und laufe und bin inzwischen am Elbstrand angekommen, und die Elbe ist sehr aufgewühlt, klatscht wie wild ans Ufer. Es weht ein ziemlicher Wind, die Gräser an der Böschung liegen fast flach über den Steinen, und der Sand weht in kleinen Wirbeln hoch. Im Sommer liegen hier die Leute und sonnen sich und spielen Frisbee und grillen Fleisch, dann ist hier die Hölle los, aber es ist eine schöne Hölle. Kann man sich jetzt gar nicht vorstellen, so einsam, wie der Strand daherkommt, so düster. Eigentlich müsste es längst richtig hell sein, doch inzwischen peitscht der Wind sackdunkle Wolken über den Himmel, die fast schwarz sind und kein Licht durchlassen. Dieser Tag wird entweder ein Gewitter bringen oder im Dämmerzustand bleiben. Ich finde das ganz in Ordnung. Mir ist heute nicht nach Licht, und der Wolkenwind ist ganz angenehm, er ist wirklich fast warm, mehr ein Juniwind als ein Märzwind. Es ist okay, so durch den Sand zu laufen und die Elbe zu beobachten, sie tröstet mich, wie immer. Da hinten, wo es in Richtung Meer geht, fährt ein Containerschiff den Fluss lang und hupt.
Und manchmal, wenn man denkt, es wird gerade besser, wird es plötzlich noch viel schlimmer. Ich gehe schneller, damit ich es genauer sehen kann, damit ich erkennen kann, ob das, was ich glaube, die Wirklichkeit ist. Da liegt was im Sand. Ungefähr dreißig Meter von mir entfernt liegt was im Sand. Mir wird auf der Stelle so schwindelig, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann, ich torkele mehr vor mich hin, als dass ich laufe, mein Herz kracht gegen meine Brust, ich will rennen, aber der feuchte Sand hält mich fest, ich reiße an meinen Füßen, renne, reiße, renne, reiße, bis ich da bin, wo die Frauenleiche liegt, bis ich vor ihr knie.
Er hat ihr eine rosa Perücke aufgesetzt, langes, glattes, glänzendes Plastikhaar, das sich in den Sand gießt. Sie ist groß und athletisch, ihre Beine sind kerzengerade gestreckt, ihre Arme sind ausgebreitet, und es sieht aus, als hätte sie sie im Sand auf und ab bewegt, als hätte sie sich Flügel aus Sand gebastelt, so wie Kinder das im Schnee manchmal machen. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht zeigt zum Himmel. Um ihren Hals läuft das scharfe Würgemal, das auch um Margaretes und Henriettes Hals lief. Ich bin auf einmal todmüde und könnte auf der Stelle einschlafen. Augen schließen, einschlafen, aufwachen, Sonne scheint, nichts passiert.
Ich sitze neben der toten Frau, hole mein Telefon raus und rufe die Kollegen im Präsidium an. Es fängt an zu regnen, schnell und heftig und ohne Gnade, wie ein Geschenk des Teufels. Ich ziehe meinen Mantel aus, lege ihn über die Tote und bleibe bei ihr sitzen und warte, bis die anderen endlich kommen.
Der Faller ist der Erste, der bei mir ist. Er zieht mich hoch und hält mich fest. Das ist nett von ihm. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alleine stehen kann.
»Mein Gott, Chastity«, sagt er, »wie kommen Sie denn um diese Zeit hierher?«
Ich kann nicht sprechen. Ich kann ihn nur anschauen. Das Wasser läuft mir übers Gesicht, ich weiß nicht, ob es vom Regen kommt oder ob es vielleicht Tränen sind, aber das wäre mir jetzt neu, seit der Beerdigung meines Vaters haben es meine Tränen nicht mehr bis an die Oberfläche geschafft. Auf jeden Fall ist es nass.
»Sie zittern ja«, sagt der Faller und greift mir fester unter die Arme.
Der Brückner und der Calabretta kommen angestapft, sie haben die Spurensicherung und Herrn Borger dabei. Der Brückner trägt eine Baseballkappe, der Calabretta eine Vito-Corleone-Schlägermütze, Herr Borger einen Südwester. Die Spurensicherung hat die üblichen weißen Overalls an, der Hollerieth hat einen Regenschirm dabei, den er nicht aufmacht. Hat ja auch keinen Sinn, bei dem Wind.
»Tach«, sagt der Hollerieth und bugsiert mich von der Leiche weg. Der Faller brummt und bleibt ganz dicht neben mir.
»Was zur Hölle machen Sie hier, Chas?«, fragt er noch mal und bietet mir eine Roth-Händle an.
»Ich konnte nicht mehr
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