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Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Titel: Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Buchholz
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Kontur, und es wird schwierig, sie weiter festzuhalten. Ich versuche es trotzdem, und irgendwie funktioniert es, aber es kostet jede Menge Kraft. Am Ende des Ganges materialisiert sich die Silhouette einer Frau in einem fließenden Kleid. Die Frau hat kein Gesicht, aber ich weiß: Sie sieht uns an. Und ich weiß, wer sie ist. Die Hand meines Vaters spannt sich noch mal kurz, und dann zerfließt sie in meiner Hand. Ich will seine Hand festhalten, ich will zu ihm aufschauen, aber nichts von beidem gelingt mir, ich kann mich nicht bewegen, ich kann nichts tun. Mein Vater fängt an zu weinen, ich starre die Frauengestalt an, ich sehe, wie sie sich von uns wegdreht und anfängt, den Gang entlangzugehen, sie entfernt sich immer weiter, sie verlässt uns, sie dreht sich nicht noch mal um, sie versucht es nicht mal, und irgendwann ist sie verschwunden. Die Tür geht wieder zu, aber durch den Türspalt kriecht noch ein bisschen Licht, wenigstens das ist von ihr geblieben, ein bisschen Licht, eine Ahnung.
    Und dann fällt etwas zu Boden. Es liegt zu meinen Füßen, es ist ungefähr faustgroß, es ist warm und nass und glänzend, es zuckt schwach vor sich hin, und ich kenne es. Es ist das Herz meines Vaters.

    Schön ist das nicht, so aufzuwachen. Ich bin verschwitzt und völlig geschafft, und mein Puls hackt genervt von innen gegen meinen Hals. Draußen ist es noch stockdunkel, aber die Vögel sind schon am Start. Das hilft mir ein bisschen, das heißt, dass die Nacht mit ihren bösen Träumen sich langsam vom Acker macht. Die Uhr sagt: fünf. Ich stehe auf, gehe ins Bad und dusche mir den Schweiß von der Haut. Dann ziehe ich mich an und gehe raus auf die Straße.
    Der Kiez ist leer, als hätte jemand die Menschen weggefegt. Nur der Müll liegt noch in der Gegend rum wie die Reste eines billigen Feuerwerks. So ist das oft an einem Sonntagmorgen. Samstags scheint das Partyvolk nicht so lange durchzuhalten wie freitags, und danach sind nicht annähernd so viele Kneipenleichen unterwegs, den meisten steckt ja auch noch der Donnerstag in den Knochen. Und die, die doch noch durchhalten, haben Tabletten genommen und verstecken sich hinter den Stahltüren der Frühclubs.
    Ich schlage meinen Mantelkragen hoch, aber das ist mehr eine Geste. Es ist überhaupt nicht kalt, die Luft fühlt sich überraschend lau an. Ich schaue in den Himmel, er bricht langsam auf, bekommt feine, helle Risse, und ich schicke einen Gruß nach oben. Hey, Dad. Wie geht’s dir so?
    Natürlich erwarte ich keine Antwort, ich bin ja nicht bescheuert, es ist lediglich ein inneres Winken. Aber ich könnte gut mal mit ihm reden, ich könnte das echt gut vertragen. Verdammt. Ich kann ihn ja nicht mal auf dem Friedhof besuchen. Ich habe ihn dummerweise nicht in Deutschland begraben. Er steckt in einer Wand in Bellehaven, North Carolina. Ich hatte nach seinem Tod das Gefühl, es sei klug, ihn wieder dahin zu bringen, wo er herkommt, und so habe ich uns eine Heimreise spendiert. Und jetzt ist er dort, und ich bin hier und mir schon lange nicht mehr so sicher, ob es richtig war, ihn dorthin zu schaffen. Denn ich werde im Leben nicht wieder nach Bellehaven fahren. Bellehaven ist ein gottverlassenes Kaff.
    Ich flog damals nach Washington, im Gepäck hatte ich meinen Dad und einen geschmuggelten Flachmann, der gut mit Wodka gefüllt war. Ich trank wirklich viel in diesen Wochen, und ich hatte das Gefühl, dafür hat man die offizielle Erlaubnis, wenn man seinen Vater tot auf dem Schreibtisch gefunden hat und gerade mal zwanzig ist.
    In den USA hat man diese Erlaubnis leider nicht. Und als ich auf meine Verwandten in Bellehaven traf, wünschte ich, ich hätte ein paar Flachmänner mehr durch den Zoll geschmuggelt. Die vier Schwestern meines Vaters, meine Tanten, trugen bunte Kleider und geschmacklose Hüte, ihre Männer, das waren dann wohl meine Onkels, waren mürrisch, grobschlächtig und rotgesichtig und tranken in einer Tour Bourbon. Meine Cousins und Cousinen waren alberne Teenager mit blöden Frisuren und quäkigen Stimmen, ich fand sie zum Kotzen. In keinem dieser Menschen erblickte ich auch nur einen Hauch meines Vaters.
    Die Beerdigung fand auf dem örtlichen Friedhof statt und war eine Katastrophe mit für mein Gefühl etwas zu vielen Trauerweiden, eine schlimme Operette. Es war schwül, meine Tanten trugen immer noch diese furchtbaren Hüte, eine dicke Frau sang die amerikanische Nationalhymne, und die Trauergemeinde wurde noch durch ein paar abgehalfterte

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