Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
ich.
»Wir haben alle Transenshops abgeklappert«, sagt der Brückner. »Die Perücken gehen pro Tag hundertmal über den Tisch, die werden genauso von Touristen gekauft wie von seltsamen Gestalten oder Prostituierten, da fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Pech.«
»Gibt’s was Neues über den toten Luden?«, frage ich.
»Da sind wir dran«, sagt der Brückner. »Der Basso hat für alle und jeden gearbeitet, hat sich regelmäßig mit den schlimmsten Jungs eingelassen, kam aber schon seit Jahren nicht raus aus seinem Heiermannstatus. Der Kiez hält geschlossen das Maul, wenn wir nach ihm fragen. Kann auch sein, dass die Sache mit ihm völlig unabhängig von unserem Fall gelaufen ist und dass das nur oberflächlich so gut zusammenpasst. Der Basso war permanent in Schwierigkeiten. Ich hab morgen Dienst und werde mal Kontakt zur Abteilung V-Männer aufnehmen. Vielleicht können die uns helfen. So kommen wir da nicht weiter.«
»Okay«, sage ich. Mir wird wieder schwindelig. Ich muss an Carla denken. Ich könnte einen Kaffee vertragen. Oder ein Lebenszeichen von meiner Freundin. Ich schaue auf mein Telefon. Nichts. »Sonst noch irgendwas?«
Allgemeines In-die-Runde-Schauen, Köpfeschütteln. Der Hollerieth ist schon aufgestanden und packt seine Sachen zusammen. Auf seiner Stirn steht: Ich fühle mich nicht gewürdigt.
»Gute Arbeit, Leute«, sagt der Faller, »ich habe das Gefühl, wir kommen näher ran.«
Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt dringend zum Fußball gehen sollte, ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann. Ich rauche noch eine mit Betty, sie isst einen Apfel dazu, der Calabretta beobachtet sie vorsichtig aus der Entfernung, der Faller raucht auch eine mit, und dann mache ich mich auf den Weg ins Stadion.
Über dem Millerntor hängen dicke fette Wolken. Ich schätze, es pisst heute noch. Ich habe frische Zigaretten gekauft, stelle mich auf unseren Stammplatz in der Südkurve, schaue den Jungs beim Warmmachen zu und tue so, als wäre nichts. Ich war seit Ewigkeiten nicht ohne Carla beim Spiel. Mein alter Bekannter, der Sozialhilfeempfänger, ist auch noch nicht da. Lassen mich heute denn alle sitzen?
Einmal war ich mit meinem Vater in Frankfurt im Waldstadion, da bin ich verloren gegangen. Ich war vielleicht acht oder neun. Es war ein aufregender Tag, die Eintracht spielte gegen die Bayern, ganz Frankfurt war aus dem Häuschen.
Mein Vater und ich standen unten am Zaun, damit ich besser sehen konnte. Mir war warm, ich hatte Durst, ich wollte unbedingt eine Limonade und zeterte die ganze Zeit rum, weil ich zwar Limonade wollte, aber auf keinen Fall auch nur eine Minute des Spiels verpassen. Mein Vater traute mir immer eine Menge zu, und so entschied er: Papa holt die Limonade, Tochter rührt sich nicht vom Fleck.
Die ersten fünf Minuten, in denen ich alleine war, blieb ich auch noch brav stehen.
Aber dann ging ich ein Stückchen nach links, ich wollte näher zur Eckfahne.
Ich war schon damals ein großer Fan des Eckballs. Ich mag es einfach, wie die Flanke fliegt, wenn sie gut sitzt. Ich ging also nach links.
Noch ein Stück. Und noch ein Stück. Und dann stieg ich ein paar Treppen hoch. Da war ein Stück Zaun in meinem Blick, das versaute mir die Aussicht. Dann schob sich ein dicker Mann vor mich, in genau dem Moment, als ein Eintrachtspieler eine Ecke trat. Ich stieg noch ein paar Stufen hoch. Da war die Sicht super. Ich blieb.
Zur Halbzeitpause fiel mir mein Vater ein. Ich wollte zurück zu unserem Platz, fand ihn aber nicht mehr, denn mein Vater war nicht da. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo wir gestanden hatten, alles sah plötzlich so gleich aus. Ich kämpfte mich durch die Leute, nach rechts und wieder nach links, nach oben und wieder nach unten, aber meinen Vater fand ich nicht, und vom Spiel bekam ich auch nichts mehr mit, Ecken schon gleich gar nicht. Ich wusste, mein Vater irrt hier auch durch die Kurve und sucht mich, und alles nur, weil ich nicht auf ihn gehört hatte.
Am Ende lief ich zum Kassenhäuschen, und mein Vater wurde ausgerufen.
Er war sofort da. Er schimpfte nicht, er nahm mich nur auf den Arm, und: er weinte. Später behauptete er immer, er hätte geweint, weil die Eintracht in der neunzigsten Minute noch ein Tor reingekriegt und dann doch verloren hat.
Ich war die Tochter, die er verdient hatte, und hab’s ihm geglaubt.
In genau diesem Augenblick fällt mir etwas von hinten um den Hals.
»Liebes! Schau mal, wen ich mitgebracht habe!«
Carla. Oh
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