Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 1 (German Edition)
Vertrauten, immerzu in Schlangenlinien durch das Unterholz stolpernd. Ich kann froh sein, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin. Wer kann erahnen, wie viele Zauberer unseres Bundes heute ihr Leben gelassen haben, oder es noch verlieren werden. Die Priester sind unerbittlich und sie werden erst ruhen, wenn sie jeden Einzelnen gefangen und getötet und den Zirkel vernichtet haben.
Für einen kleinen Moment glaubte Auriel, die Absichten der Priester und ihrer Streiter sogar verstehen zu können. Sie wähnte den Schmerz spüren zu können, den die Opfer des Zirkels verspürt hatten, als sie vor wenigen Stunden hingerichtet worden waren, und ahnte, welch Streben die Priester zu ihrem Angriff gedrängt hatte.
Sie wollten nichts weiter, als ihre Freunde zu retten , stöhnte sie in Gedanken. Sie wollten Leben retten, Tier wie Mensch von der Pein erlösen, die wir ihnen auferlegt haben. Sie kamen zu spät, konnten sie nicht mehr retten, nicht vor dem Unheil bewahren und so wollten sie ihren Tod rächen. Ich hätte nicht anders gehandelt! Auriel wurde von Mitleid erfüllt. Eine eisige Kalte drückte ihr die Kehle zusammen, ihre Schritte wurden langsamer. In Auriels Augen spiegelten sich für einen kurzen Moment Wärme und Mitgefühl. Waren wir wirklich so schlecht? Haben wir so unrecht gehandelt, dass man uns dafür verfolgt, uns tötet? Haben wir denn nicht gleich den Priestern unserer Feinde lediglich den Göttern gedient?
„Ich muss damit aufhören!“, rügte sie sich und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich muss zusehen, dass ich nicht noch einmal so sentimental werde, wie vorhin, als ich den Wolf getötet habe. Es sind bloß Menschen und Tiere – Opfer, nichts weiter! Ehrbar ist nur derjenige, der vor den verwobenen Grauen als wahrer Gläubiger, als ehrlicher Diener und als untergebener Bote dasteht. Derjenige, der das Erbe der Götter in die Welt hinausgetragen hat.“ Nicht Mitleid wird belohnt, wenn das Ende uns einst dahinrafft! Nicht Menschlichkeit und Tränen der Trauer werden in Ehre und Ruhm aufgewogen, sondern Taten – Taten und Opfer. Ergebenheit im Dienste der Götter.
Die Schraube der Melancholie drehte sich weiter und weiter in ihrem Herzen, trieb die Gefühlswelt der jungen Frau in einen Strudel aus Zweifeln. Doch bevor sich Auriel völlig in ihren trübsinnigen Gedanken verlieren konnte, erblickte sie die Silhouette eines großen Tieres zwischen den schwarzen Stämmen der Bäume. Sie wusste, dass es ihr endlich gelungen war, ihren Freund wiederzufinden.
„Endlich!“, rief sie vor Freude aus, steckte den Dolch zurück in die Scheide und lief, so schnell sie ihre bloßen Füße trugen, zu dem anmutigen Tier hinüber. „Kentaro, ich komme!“
Kentaro, der schwarze Hengst, begann aufgeregt zu schnauben und zu wiehern, als er der Stimme seiner Herrin gewahr wurde. Er scharrte mit den Vorderhufen und warf den Kopf in den Nacken, während seine Augen die Zauberin feurig blitzend musterten.
Auriel sprang schnell über die letzten Sträucher und Büsche hinweg, die sie noch von dem Anderdachter trennten, und fiel ihm nur einen Augenblick später um den Hals. Es war wie ein Stück Heimat, als sie den Duft ihres Vertrauten in der Nase spürte und sich ihre Finger begierig in das weiche, seidige Fell des schwarzen Tieres gruben.
„Ich habe dich so vermisst, Kentaro!“, seufzte Auriel glücklich. Sie strich sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Kentaro ähnelte äußerlich einem Pferd, doch er war kein gewöhnliches Ross – er war ein Anderdachter. Diese außergewöhnliche Pferderasse war einzig im hohen Norden Bønfjatgars beheimatet und zeichnete sich durch grazile Anmut, einen kräftigen, muskulösen Körperbau und beinahe menschliche Intelligenz aus.
Ein Wesen der Anderdacht vermochte nicht einmal die mächtigste Magie zu zähmen, kein menschliches Wesen konnte sich diese Rasse zu Untertan machen. Ein Anderdachter suchte sich seinen Begleiter selbst und folgte ihm treu bis in den Tod – oder aber er würde niemals einem zweibeinigen Wesen Folge leisten. Keinesfalls aber würde ein solches Pferd von jemandem ausgewählt werden.
Kentaro hatte sich Auriel bereits vor Jahren zur Begleiterin erkoren und folgte ihr seit diesem Tag auf Schritt und Tritt. Die junge Novizin war sich der Ehre, die ihr durch diese Freundschaft zuteilwurde, durchaus bewusst und dankbar um jeden Tag, an dem Kentaro in ihrer Gesellschaft weilte.
„Ich danke dir, dass du auf mich gewartet hast“, flüsterte sie ihm in
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