Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 1 (German Edition)
Arkadenbögen aus Herbstlaub. Dicke Wurzeln hatten den Boden an einigen Stellen aufgesprengt. Die Natur wollte sich die von Menschenhand gefertigte Straße mit aller Gewalt zurückerobern.
Die Gefährten waren schon längst bis auf die Haut von dem kalten Herbstregen durchnässt und froren ob des stetig heftiger werdenden Sturms, als die Straße einen steilen Hügel hinaufführte. Erinnerungen kehrten in Auriels Gedanken zurück. Plötzlich sah sie die Bilder in ihrem Kopf so klar vor sich, als wäre sie erst gestern auf diesem Weg gewandelt, obwohl sie bereits seit Jahren nicht mehr dort gewesen war.
„Hinter diesem Hügel liegt das Dorf!“, brüllte sie gegen den Sturm an. „Wir müssen nur noch den Anstieg überwinden, dann gelangen wir in ein Tal. Darin liegt Skogrigg!“
Die Hexerin wischte sich über das nasse Gesicht und lief dicht gefolgt von Kentaro voraus.
Wenig weiter lichtete sich der Wald. Auf dem höchsten Punkt des Hügels gab er eine Lichtung preis, auf der sich die Straße zu einem kleinen Platz verbreiterte.
Auriel verweilte an dieser Stelle, sie wollte den vertrauten Anblick auf das hinter der Anhöhe liegende Tal auskosten. Als Rhavîn und Nymion dieses Plateau erreichten, verharrten auch sie ob des Anblicks, der sich ihnen darbot.
Vor den Vieren lag ein tiefes, weitläufiges Tal, das von lichtem Wald bestanden und mit Gras, Flechten und Kräutern bewachsen war.
Während man den Anstieg auf der gegenüberliegenden Seite des Tals trotz des grauen Himmels und dem strömenden Regen sofort erkennen konnte, fiel der nächste Blick der Kameraden auf das kleine Dorf, das vor ihnen lag – Skogrigg.
In der Mitte des Tals standen etwa fünfzehn reetgedeckte Langhäuser und weitere kleinere Hütten und Häuser sowie ein hölzerner Tempel, der das Zentrum des Dorfes ausmachte. Die Häuser besaßen keine Fenster – Licht und Luft erhielten sie über in die Wände eingelassene Öffnungen, die sich direkt unterhalb des Dachansatzes befanden.
Üblich für diese Region waren auch die kunstvollen Schnitzereien, welche die Eingangstüren aller Häuser schmückten. Sie stellten Drachenköpfe, Boote oder Symbole und Schriftzeichen dar und sollten die Häuser und ihre Bewohner vor bösen Geistern beschützen.
Die geraden Wände der Häuser waren sehr niedrig, die lang gezogenen Giebeldächer schützten im Winter vor zu viel Schneelast und isolierten die großen Bauten gegen Kälte und Wind. In jedem dieser Langhäuser konnten zwei bis drei große Familien samt Vieh leben – auch dies war typisch für diese Region Bønfjatgars.
„Skogrigg. Wie lange bin ich nicht mehr an diesem Ort gewesen“, hauchte Auriel und spürte wehmütige Gefühle in ihr aufstiegen. Wie sehr hatte sie in den vergangenen Jahren dafür gekämpft, all ihre so verhassten menschlichen Gefühle wie Trauer, Wehmut und Mitleid aus ihrem Geist zu verbannen. Nun wurde sie trotz aller Bemühungen verurteilt, sich einer Woge aus Kindheitserinnerungen und sehnsüchtigen Gedanken an bessere Tage hinzugeben. Regenwasser floss in Strömen ihren Nacken entlang, Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper.
„Komm, Auriel!“, forderte Rhavîn, der schon vorausgelaufen war. „Lass uns nach einer Herberge oder einem anderen Unterschlupf suchen.“
Alle folgten dem Dunkelelfen nach Skogrigg hinein.
Neuntes Kapitel: Schöner Schein
Niemand befand sich auf den wenigen Lehmpfaden, welche die Langhäuser miteinander verbanden, und außer dem heftigen Prasseln des Regens war kein Laut zu hören. Nirgends drang ein Lichtschein aus den Häusern. Weder Mensch noch Tier waren auszumachen. Nichts deutete darauf hin, dass Skogrigg noch bewohnt wurde.
Allerdings waren die Häuser weder verfallen noch zerstört und nichts wies auf Spuren eines Kampfes hin.
„Das Unwetter allein kann nicht dafür verantwortlich sein, dass Skogrigg wie ausgestorben ist!“, rief Auriel gegen den Regen an. Misstrauisch blieb sie stehen, bevor sie das erste Langhaus erreichte. Die Zauberin erinnerte sich sehr gut daran, dass Skogrigg zu allen Jahreszeiten ein belebtes Dorf gewesen war. Selbst bei Schnee oder heftigem Regenfall waren die Menschen ihrem Tagewerk nachgegangen.
Es lebten vor allem Holzfäller und Jäger in Skogrigg, doch auch einige Fischer, die in den nahegelegenen Waldseen ihre Angelruten und Netze auswarfen. Da es keinen öffentlichen Markt gab, waren die Bewohner auf die Waren angewiesen, die sie selbst produzieren und finden konnten, sodass solch ein
Weitere Kostenlose Bücher