Rheingau-Roulette
wohl zu Arnos Brüdern gehörten und die Vier, die Fritz und Doro mitgebracht hatten. Optisch waren die vier Geschwister eindeutig zuzuordnen, drei Jungen und ein Mädchen, alle mit dem runden Gesicht Dorotheas und der schmalen Statur von Fritz ausgestattet. Die Altersgruppe war durchmischt. Alexandra beobachtete die spielenden Kinder, und versuchte Gesprächsfetzen zu erhaschen und die Sprachqualität zu bewerten.
„Na, welches wollen Sie sich mitnehmen?“
Neben ihr war Pfarrer Thessmann aufgetaucht. Seinen schwarzen Talar hatte er gegen eine sportliche helle Hose und ein knappes T-Shirt getauscht. Seine gepflegten Füße steckten in Trekkingsandalen.
„Keins.“ Alexandra lächelte ihn spitzbübisch an. „Diese Sorte Monster muss man selber produzieren, damit man weiß, dass man für jeden Spaß im Leben die Rechnung bekommt!“
„Was für eine weise Erkenntnis.“ Thessmann lachte. „Darauf trinken wir! Dorothea Kern hat mich beauftragt, Ihnen einen Schnaps zu bringen! Sie hat gesagt, Sie hätten ihn bestimmt nötig, weil Sie sich schon seit zehn Minuten diesem Lärm aussetzen.“ Er blickte zu den Kindern, die sich mit Wasser bespritzten und dabei lauthals und ausgelassen kreischten.
„Danke.“ Alexandra nahm das kleine Gläschen mit der durchsichtigen Flüssigkeit entgegen. „Aber wenn ich den hier draußen in der Hitze trinke, fange ich gleich das Johlen an!“
„Na wie schön. Dann johlen wir gemeinsam. Ich wollte Sie sowieso fragen, ob Sie nicht unseren Gospelchor verstärken wollen.“
„Mit Johlen? Ich weiß nicht, ob das in einen Gospelchor passt!“ Alexandra sah ihn von der Seite an.
Thessmann lachte wieder. „Nein. Natürlich mit Singen. Sie haben eine schöne Alt-Stimme, hat Caro gesagt.“
„Ist der Gospelchor der Chor, den Caros Mutter gegründet hat?“ Alexandra drehte das leere Gläschen in den Händen.
Thessmann nickte. „Soweit ich weiß schon. Können Sie mir was über die Entstehungsgeschichte erzählen? Bisher fängt jeder das Stottern an, wenn ich danach frage.“
„Kein Wunder“, Alexandra rieb sich die Arme. „Es fällt allen schwer, darüber zu reden. Mir auch.“ Sie sah ihn einen Moment schweigend an. Er erwiderte ihren Blick unbefangen und freundlich.
„Wo fange ich an?“
„Am besten, am Anfang!“
„Caro hatte eine Schwester, Luise. Sie war schwerstbehindert und starb schon sehr früh. Die Grunderkrankung wurde nie dokumentiert. Ich glaube, sie war nicht älter als ein halbes Jahr, als sie verstarb.“ Alexandra sah Thessmann an, der sie noch immer unverwandt freundlich mit auffordernder Miene ansah. „Caros Eltern haben den Tod des geliebten Kindes lange nicht verwinden können und haben sich zeit ihres Lebens für behinderte Kinder engagiert. Der Gospelchor wurde von meiner Tante Ilse, also Caros Mutter, in der Lübbener Werkstatt für Behinderte gegründet.“ Alexandra schluckte. „Lassen Sie uns eine Flasche Wasser holen und in den Schatten gehen.“
„Suchen Sie uns ein schönes Plätzchen, ich gehe und hole das Wasser.“ Thessmann stand auf.
Kurz darauf kam er mit zwei Gläsern und einer Flasche Mineralwasser zu Alexandra zurück, die unter einem Baum am Rande des Gartens saß. Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen.
„Wie ging es weiter?“ Seine Stimme war gepflegt und hatte den geübten Tonfall eines Seelsorgers.
„Ilse hatte Kontakte zu anderen Gospelchors gepflegt und unter anderem einen in den USA aufgetan. Sie wollte eine Reise ihres Chors zu den Amerikanern organisieren und für die Vorbereitung wollte sie nach Syracuse, New York fliegen.“ Alexandra lächelte in Gedanken an Ilse.
„Meine Tante und Onkel Eberhard waren USA-Fans. Die beiden haben hier in Rangsdorf glücklich gelebt. 1989 sind sie zwar über Ungarn geflohen, aber nur, weil alle gingen. Es war ihr Traum, einmal im Leben nach New York zu fliegen. Das war der einzige Grund, warum sie die DDR verlassen wollten. Einmal in die USA.“ Alexandra trank ihr Wasserglas in hastigen Schlucken leer.
„Und dann? Haben sie es gemacht?“
„Sie haben es versucht.“
Thessmann sah Alexandra fragend an „Versucht?“
„Sie saßen in der Concorde, die 2000 in Paris abgestürzt ist.“ Alexandra lehnte sich an den Baum im Rücken. Sie schluckte. „Natascha, also Natz, Caros älteste Tochter, war gerade vier Monate alt. Caro musste sie abstillen, weil sie starke Beruhigungstabletten nehmen musste. Sie war kurz vor dem Wahnsinn. Ohne Oma Liesel hätte sie sich
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