Rheingold
wirkten noch immer gefährlich. Wendig wie eine Schlange, die in einer Felsspalte verschwindet, kroch der Sinwist in das Zelt. Sigfrid folgte ihm etwas langsamer und gab sich Mühe, nicht gegen die Stangen zu stoßen, die das Zelt stützten. Er sah, wie kunstvoll es aufgestellt worden war. Jedes Fell war über eine Reihe Streben gespannt, die so geschickt zusammengefügt waren, daß sie in sich beweglich blieben und bei dem leisesten Druck elastisch nachgaben.
Im Innern war es heiß und bis auf die schwache Glut in der Mitte dunkel. Unzählige Schweißperlen flossen zusammen und riefen Sigfrid über Gesicht und Rücken.
Das lange Gewand des Sinwist und sein Haarknoten hoben sich als dunkle Schatten vor der Zeltwand ab. Die Glut warf kein Licht auf sein Gesicht. »Jetzt werden wir uns Klarheit verschaffen«, murmelte der Sinwist. Er hob einen Weinschlauch hoch, und Sigfrid hörte ihn trinken. Dann reichte der Alte ihm den Schlauch, dessen Inhalt scharf und säuerlich roch. Es war aber weder Wein noch Bier, sondern ein Getränk, das nach dünner, vergorener Milch schmeckte. Sigfrid wurde noch heißer.
Der Sinwist ließ ein paar Tropfen auf die Glut fallen und begann zu singen. Seine Stimme wurde leiser und leiser, bis Sigfrid ihn nicht mehr mit den Ohren hören konnte, sondern das tonlose Murmeln nur noch in seinem Schädel tönte.
»Der Adler sitzt auf der Spitze des Baums. Sein Flügelschlag treibt den Wind von Osten nach Westen.«
Der Sinwist beugte sich vor und warf etwas ins Feuer. Aromatischer Rauch stieg auf. Sigfrid legte die Hand auf den Mund und versuchte, ein Husten zu unterdrücken, um die Worte des Sinwist nicht zu verpassen.
»Ansuz, du ältester Gote, uralter Vater unseres Volkes, richte deinen Blick auf uns. Engus, erinnere dich an uns, damit dein Eberzahn uns schütze und deine Weisheit uns führe. Halja, kluge Frowe, gib deine Knechte frei und laß sie sprechen: Verleihe den Runen der Toten Worte. Ihr Geister, die ihr um uns seid, die ihr in dem geweihten Holz und den hohlen Schädeln haust, kommt herbei und schenkt uns euren Rat. Sprecht zu mir, und ich werde es wissen.« Der Sinwist neigte lauschend den Kopf. Sigfrid hörte nur das Knistern der Blätter auf der Glut.
Plötzlich raschelte etwas im Dunkeln. Sigfrid hörte, wie Federn gegen Leder stießen. Der Sinwist griff in die Luft, plötzlich hielt er einen Vogel in den Händen, den er sofort mit einer
schnellen, kraftvollen Bewegung tötete. Dann zog und zerrte er an dem kleinen Körper, bis etwas riß und dunkles Blut zischend auf die Glut tropfte.
»Speise für euch, die Alten«, flüsterte der Sinwist, »kommt, ihr Geister, kommt und nehmt, was euch gehört! Kommt alle die ihr im Tod Schlangen geworden seid, und ihr, die Adler. Eilt herbei aus den Wurzeln der Bäume, aus den Nestern der höchsten Zweige...« Er legte den blutenden Vogel auf den Boden und streute wieder Blätter auf das Feuer. Im Rauch tanzten lichtlose Funken in allen Regenbogenfarben. Sigfrid wurde es schwindlig, sein Körper war schwach und gefühllos. Kleine Knochen knackten und klirrten in den Händen des Sinwist und fielen auf die Erde vor dem Feuer. Zuerst waren die Runen schwarz, dann sah Sigfrid Flämmchen aus ihnen emporzüngeln, deren Formen sich ihm in die Augen brannten. »Fehe, Gebo, Pertho, Nauthiz«, sang der Sinwist und berührte nacheinander die geschnitzten Knochen »Gold führt in der Sippe zu Zwietracht und Hader, aber hier geht es um Hochzeitsfreude, und da liegt der Stein im Brunnen. Aaaah...« Der Seufzer hallte, rauschte in Sigfrids Ohren und wurde in den kahlen Zweigen zu einem stürmischen Wind. »Ich muß mehr wissen. Diese Runen sind dunkle Runen. Ihre Geheimnisse sind mir verborgen. Ich kann nicht sehen, was diese Not-Rune verheißt. Ich frage euch: Wer spricht zu mir? Wer?«
Er warf den kleinen Vogel auf die Glut. Die Federn flammten auf. Der stinkende Rauch brachte Sigfrid zum Husten, bis der Sinwist ihm die kalte Hand auf den Mund legte, und der Reiz verschwand. Es dauerte lange, bis auch das Fleisch zu brennen anfing. Die Haut zischte und brutzelte in den züngelnden Flammen.
Wie braunrote Herbstblätter im Wind wirbelte es plötzlich im Feuer; ein Fuchs erschien, und das Knistern der Flammen wurde zu Worten -Worte, die mit feuriger Zunge und einer zischenden hohen Stimme gesprochen wurden. Sigfrid glaubte, die Stimme zu kennen, aber woher, das wußte er nicht. Er beugte sich vor, um mehr zu verstehen.
»Ich werde zu dir sprechen,
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