Rheingold
»Hör mir gut zu! Keiner deiner Männer glaubt, daß er den Tag morgen überlebt.«
»Warum sind sie dann immer noch hier?«
»Ihr Stolz hält sie«, flüsterte Regin, »ihr Stolz und ihre Treue. Vielleicht wollen sie auch nicht, daß du allein einer ganzen Streitmacht gegenüberstehst. Aber ich kann dir versichern, jeder von ihnen hofft, daß du beschließt, du habest genug getan, um Sigmund zu rächen. Sie wollen, daß du morgen früh nach Hause fährst.« Sigfrid drehte sich ärgerlich um. Der Wind trieb ihm ein paar Regentropfen ins Gesicht, und der volle runde Mond erschien kurz hinter den großen, schwarzen Wolkenbergen.
»Ich glaube, das Wetter wird dafür sorgen, daß wir hierbleiben müssen«, sagte er so unbeschwert wie möglich. »Wahrscheinlich haben wir Glück, wenn wir um die Julzeit zu Hause sind.«
»Du wirst am Julfest nicht in Alprechts Halle sitzen«, erwiderte Regin, und es klang gequält.
»Sigfrid, wenn du dich morgen Lingwe stellst, ist das eine grenzenlose Dummheit.«
»Du hast mich zum Helden erzogen«, erwiderte Sigfrid. »Du hast dein Bestes getan, mich klug zu machen. Aber du hast immer darauf geachtet, daß ich meine Ehre und meine Herkunft nicht vergesse. Ich frage dich: Wenn ich jetzt vor der Gefahr davonlaufe, würdest du mir diese Schande verzeihen können? Müßtest du nicht darauf bestehen, daß ich bleibe?«
Regin schwieg, und Sigfrid hörte ihn seufzen. Er wartete stumm auf eine Antwort, aber als sie nicht kam, ging er zum Bug zurück und lehnte sich mit dem Rücken zum Wind an die glatten, geschnitzten Schuppen des Drachenkopfes. Er schloß die Augen und versuchte, die Worte des Zwergs zu vergessen. Im Halbschlaf schien er einen Schwarm schwarzer Fliegen zu sehen, die seine Männer stachen. Aus den Stichen quollen unzählige kleine Blutstropfen hervor. Nur dort, wo er stand, war die Luft rein, als blase der Wind alle Fliegen davon. Sigfrid hob zornig den Arm, um die Fliegen von seinen Männern zu verscheuchen. Es gelang ihm.
*
Sigfrid weckte seine Gefolgsleute noch vor Tagesanbruch. Dünner Nieselregen trieb grau über die Bucht. Die Wellen hatten Schaumkronen. Die Männer erwachten frierend und fluchend. Sobald jeder sich ein Stück Brot und etwas von dem erbeuteten Fleisch oder Käse genommen hatte, gab Sigfrid das Zeichen zum Aufbruch. »Vom Rudern wird euch warm!« rief er, setzte sich auf die vorderste Bank und griff nach den Riemen. »Kommt schon, ihr müden Helden! Ein letzter Kampf, und der Sieg ist unser! Heute nacht werden wir in Lingwes Halle schlafen und sein Bier trinken.«
Die fünf Schiffe kämpften sich langsam durch die hohen Wellen. Sigfrid wollte noch in der Dunkelheit die Bucht überqueren und den schmalen Meeresarm soweit wie möglich hinaufrudern, damit alle sicher an Land kamen, bevor der Feind sie daran hindern konnte. Diesmal ließ er keine Wachen an Bord der Schiffe zurück. Jeder wußte, entweder würden sie alle sterben oder siegen. Schweigend sprangen die Männer in das flache Wasser und wateten ans Ufer. »Bildet den Keil!« befahl Sigfrid. Er wartete, bis alle mit kampfbereiten Waffen und Schilden hinter ihm Aufstellung genommen hatten. Dann trat er ein paar Schritte vor, drehte sich um und rief: »Das ist die Schlacht, für die ihr den Keil geübt habt. Jeder muß auf seinem Platz bleiben, bis wir die feindlichen Truppen gespalten und aufgerieben haben. Nur auf mein Zeichen hin darf sich die Formation auflösen, und dann macht ihr alle nieder, die noch leben. Die Götter haben uns die Siegeszeichen gesandt, und ich weiß, daß ihr mich nicht im Stich lassen werdet.« Er zog Gram aus der Scheide und hielt das Schwert hoch über den Kopf. »Für Wotans Rache und den Sieg!«
»Für Wotans Rache und den Sieg!« schallte als donnerndes Echo der Kampfruf aus allen Kehlen. Die Stimmen der Krieger klangen rauh, aber Sigfrid hörte kein Zaudern und wußte, er konnte ihnen vertrauen. Er schob das Schwert in die Scheide, drehte sich um und marschierte mit seiner Streitmacht den Hang hinauf. Eine breite Schneise führte durch den winterlichen Wald. Sie war breit genug, daß die Männer in voller Formation zwischen den Bäumen hindurchkamen, auch wenn regennasse Zweige die Schilde an den Rändern des Keils streiften.
Sie hatten den Wald noch nicht hinter sich gelassen, als der kalte Wind ihnen das Geheul einer riesigen Hundemeute entgegentrug. Beim Näherkommen hörten sie Waffen klirren, die gegen Waffen und auf Schilde geschlagen wurden.
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