Rheingold
stach sie wie ein Dorn. Ein Blutstropfen, dunkelrot wie die Beere einer Eibe, erschien auf der schneeweißen Haut.
Langsam schlug sie die Augen auf, in denen sich der blaßblaue Himmel des neuen Tags spiegelte. Sigfrids Herz erstarrte, als ihr Blick ihn wie ein Blitz traf. Er konnte sich nicht bewegen und nicht atmen. Seine Freude war so groß, daß er zu sterben glaubte. Ihre Stimme war wie sanftes Meeresrauschen, als sie verwundert fragte: »Was hat mein Kettenhemd durchtrennt?« Wie verzaubert lauschte Sigfrid diesem zarten Klang und schwieg auf alle ihre Fragen. »Wer hat meinen Schlaf gestört? Wer hat meine bleiernen Fesseln gelöst?« Sie richtete sich langsam auf,
hob den Kopf zum Himmel, und erst dann fiel ihr Blick auf Sigfrid.
»Ich bin Sigfrid, Sigmunds Sohn!« antwortete er, »Fafnir, der Drache, ist durch meine Klinge gefallen. Sein Tod hat dich aus deinem Schlaf erlöst.«
»Es war ein langer Schlaf«, flüsterte sie und schien ihn noch immer nicht zu sehen. »Ich habe lange hier gelegen. Für die Verdammten ist die Zeit lang. Ich bin hier, seit mich Wotan vom Schlachtfeld verbannt hat.«
Die Walküre sprang auf, schob die langen Haare über die Schultern und hob Kopf und Hände dem Licht der aufgehenden Sonne entgegen und rief glücklich:
Segen dem Morgen! / Segen dem Tag der Söhne!
Segen der Nacht und ihren Töchtern!
Lenke die strahlenden Augen / ohne Zorn auf uns,
Schenke denen den Sieg, die dich verehren!
Gelobt seien die Götter! / Gelobt die Göttinnen!
heilig sei die alles schenkende Erde!
Sprache und Menschenverstand / schenke sie uns,
und heilende Hände, solange wir leben!
Mit ihren hellblauen Augen strahlte sie Sigfrid an, ganz ohne Zaudern nahm er sie zärtlich in seine Arme. Er drückte ihren schlanken Leib an seinen starken Körper, und die Walküre senkte ihren Blick in seine Augen. Die Tränen seiner namenlosen Freude schimmerten klar wie Eiskristalle auf ihrem Gesicht, als er sich über sie beugte und sie küßte.
»Wie soll ich dich jetzt nennen?« fragte er sie. »Auf diesem Berg bin ich Sigidrifa und deine Frau, denn du hast mich aus dem Schlaf geweckt«, antwortete sie, »zwei Könige starben in der Schlacht. Ich wollte dem älteren den Sieg schenken, denn es war mein Bruder, den ich geliebt habe. Aber Wotan hatte es anders beschlossen. Als Strafe hat er mich mit dem Schlafdorn gestochen und bestimmt, daß ich nie wieder den Sieg in der Schlacht vergeben darf, sondern heiraten muß. Aber ich habe geschworen, daß ich nur einen wahren Helden heirate, einen Mann, der keine Angst hat. Meine Walkürenseele wurde hier im Schutz des feurigen Schildwalls auf diesem Berg in Schlaf versetzt. Auf der Erde bin ich als Brünhild wiedergeboren. Da du mich jetzt geweckt hast, kann ich vielleicht wieder mit ihr eins und geheilt werden.«
»Du bist kühn und mutig gewesen. Du hast dafür das Schlimmste ertragen müssen«, sagte Sigfrid. »Du bist klug, Sigidrifa, und ich möchte von dir lernen, denn du kennst die Geheimnisse in allen neun Welten.«
»Du bist klüger als ich«, erwiderte sie, »aber wenn ich etwas weiß, das du lernen möchtest, sei es die Geheimnisse der Runen oder auch andere Dinge, dann sollst du es von mir
erfahren. Die Götter mögen uns diesen Morgen schenken, damit dir meine Weisheit Reichtum und Ruhm bringen möge und du in deinem Gedächtnis bewahrst, worüber wir sprechen.« Sie hob ein Trinkhorn zum Himmel, trank, reichte ihm das Horn und begann, ihren Galdor-Gesang anzustimmen. Während Sigfrid trank, hörte er die Geheimnisse der neun Welten und blickte auf die Schicksalsfäden der Nornen. Er sah mit Schaudern die Zukunft und verstand die Pläne der Götter. Er erkannte das unveränderliche Gesetz, die Einheit der Kräfte und ihre Vielheit und hörte die Stimmen der Vergangenheit, aber er sah auch seinen Tod.
Als Sigidrifa schwieg, erklärte Sigfrid leise: »Obwohl ich jetzt meine Zukunft kenne, werde ich nicht vor dir fliehen. Aber jetzt schenke mir deine Liebe, damit sie mich erfülle, solange ich lebe.« Andvaris Ring funkelte an der Hand, die er ihr entgegenstreckte. Der sechsstrahlige Stern blitzte weiß in der Mitte des großen Rubins. »Ich fürchte mich nicht vor meinem Schicksal, wie es sich auch noch wenden mag. Die Nornen mögen den Faden zu Ende spinnen. Aber wir sind nach langer Trennung endlich wieder zusammen. Und das ist genug als Belohnung für all unser Leid.«
Er küßte Sigidrifa. Jetzt waren ihre Lippen warm und schmeckten
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