Rheingold
unsere Brüder wie Wölfe gejagt werden? Es war ein Zauber, mehr nicht. Vielleicht haben sie... Ach was, es wäre das beste, wir würden sie nie wieder sehen. Aber ich werde nicht zulassen, daß meine Sippe noch mehr entehrt wird.«
Lingheid holte tief Luft und wartete, bis das Brausen in ihren Ohren nachließ. »Natürlich«, sagte sie, »natürlich. Sie sind davongeritten. Warten wir noch eine Weile, bis sie weit genug weg sind, ehe wir Vaters Männer rufen...«, dann verbesserte sie sich, »unsere Männer! Wir werden die Totenfeier für unseren Vater halten und...«, sie schluckte und warf einen Blick auf Otturs Fell, »alles verbrennen. Danach müssen wir sofort ans Heiraten denken.« Sie schwieg und fragte dann leise: »Wer ist deiner Meinung nach der beste unter den Männern?«
»Ebur«, antwortete ihre Schwester ohne Zögern. Er hatte zwar faulige Zähne und einen dicken Bauch, aber der alte Krieger war trotz allem der fähigste und klügste der Truppe. Außer Hreidmar konnte ihn nur Fafnir erfolgreich zum Zweikampf herausfordern. Die anderen würden ihn fraglos als Führer anerkennen, und nur das zählte für Lingheid.
»Gut. Ich rede so schnell wie möglich mit ihm. Wir müssen vor allem das Vorhandene zusammenhalten, dann werden wir sehen, daß du gut versorgt wirst. Ich weiß, Vater hatte für dich eine Reihe möglicher Verbindungen im Auge, aber er suchte immer noch einen Mann, mit dem du glücklich sein würdest. Jetzt...« »Du hast recht«, stimmte ihr Lofanheid zu. Ihr Gesicht war noch immer versteinert, und Lingheid dachte bekümmert: Wird meine fröhliche kleine Schwester je wieder kichern und erröten? Oder wird diese unheimliche Kraft sie bis ans Lebensende nicht mehr loslassen? Sie fühlte sich seltsam benommen und glaubte, im flackernden Feuerschein ihre Schwester als alte Frau mit eingefallenen, hageren Wangen, aber immer noch zornig glühenden Augen zu sehen. Plötzlich schien die Halle um sie herum in tiefe Dunkelheit zu versinken, alles Licht sammelte sich in ihrem Innern, und Lingheid sah, wie sich über das alte Gesicht ihrer Schwester verschwommen die Züge einer jungen zarten Frau legten, deren kaltes höfliches Lächeln unvermittelt in ein grausam triumphierendes Lachen überging. Sie verwandelte sich in einen dunklen jungen Mann mit grimmiger Miene. Mit seinen hohen Wangenknochen, der blassen Haut, der dunklen Klappe, die ein Auge verdeckte, und unter der eine lange Narbe zum Vorschein kam, schien er kaum ein Mensch zu sein. Lingheid blinzelte erschrocken, schloß die Augen und versuchte, die schrecklichen Bilder aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben. Als sie vorsichtig die Augen wieder öffnete, sah sie, wie Lofanheid sich über ihren Vater beugte und seinen Oberkörper aufrichtete. Lingheid warf ihrer jüngeren Schwester einen fragenden Blick zu und verstand. Sie stemmte beide Füße fest auf den Boden und zog zuerst Fafnirs und danach Regins Schwert aus dem Leichnam. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden jungen Frauen schließlich, den großen Hreidmar, der schwer wie Stein war, auf einen der Holztische zu legen. Lofanheid zog ihm die Tunika glatt und entfernte, so gut es ging, das verkrustete Blut, während Lingheid sanft seine verzerrten Gesichtszüge glättete und die weit aufgerissenen Augen schloß, ehe sie ihm mit den langen Ärmeln ihres Kleids das Blut von Mund und Bart abwischte. Ohne ihre Schwester anzublicken legte Lofanheid die blutigen Schwerter neben Hreidmar auf den Tisch. Dann setzten sie sich rechts und links auf die Bänke und warteten stumm - so lange, bis ihre Brüder weit genug geflohen waren. Lingheid starrte in die Flammen, Lofanheid in das Dunkel der Halle. Keine von beiden sprach über das, was sie im Feuerschein oder in den Schatten auf den Wänden sah.
5
DER ZWERG
Wotan und Hörnir wanderten durch die dunkle Nacht, bis das kalte graue Licht des neuen Morgens ihre Gestalten vor dem Hintergrund der rauschenden Fluten des Rheins und den Felsen am Ufer deutlich sichtbar machte. Hörnir schwieg, wie es seinem Wesen entsprach, und behielt seine Gedanken für sich. Mimir, der Bruder seiner Mutter, stand ihm in der Sippe am nächsten. Mimir hütete den Brunnen der Erinnerung und verteilte den Trunk aus dieser Quelle nur sparsam. Hörnir mochte Loki nicht besonders, aber er hatte Zeit und würde warten, ohne sich zu äußern oder zu richten, bis Wotans letzte Tat im Wasser von Mimirs Brunnen versank.
Sie waren weit gekommen in dieser Nacht. Im dünnen
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