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Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
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mit seinen großen Händen unter den Armen, und obwohl sie beinahe so groß war wie die meisten seiner Krieger, also kaum kleiner als er selbst, hob er sie mühelos wie ein Kind hinauf. »Was tust du denn hier, Siglind?« fragte er freundlich. Selbst in der Dunkelheit sah sie die Spuren des Alters.
    Siglind umarmte ihren Vater stumm, dann fragte sie leise: »Mit wie vielen Schiffen bist du zu dieser Fahrt aufgebrochen?«
    »Wir hatten sechs außer diesem«, antwortete Wals langsam. »Das eine bekam vor ein paar Tagen ein Leck, und wir mußten es an Land ziehen und zurücklassen, die anderen haben wir im Sturm aus den Augen verloren.«
    Siglind senkte den Kopf. »Du wartest hier auf sie und willst erst an Land gehen, wenn sie gekommen sind, nicht wahr?«
    Wals nickte. »Ich bin kein solcher Narr, mich mit weniger Männern als ich habe, in die Höhle des Drachen zu wagen.« Er sah sie plötzlich durchdringend an. »Was ist los? Sind sie ... ?«
    »Heute abend erschien ein Bote. Man hat die Wracks gesichtet. Es gibt keine Überlebenden.« Wals' Hände umklammerten die Schultern seiner Tochter, aber er lockerte den harten Griff sofort wieder und ließ sie los. »Urdr knüpft die Schicksalsfäden, wie sie will«, murmelte er. »Geh zurück zu deinem Mann, Siglind. Du kannst hier nichts mehr tun.«
    »Willst du dich so einfach deinem Feind ausliefern, obwohl du weißt, daß er dir eine tödliche Falle stellt? Vater, wenn es sein muß, erscheine in Siggeirs Halle, aber zuvor sammle eine Schar neuer Krieger um dich, und komme, um zu siegen!«
    Oder setz einfach die Segel, dachte sie, nimm mich mit und laß Siggeir fluchen. Was kann er in unserem Land gegen uns tun?
    Aber das vom Alter gezeichnete Gesicht ihres Vaters schien wieder von neuem Leben erfüllt. Seine Augen funkelten, als sehe er bereits die glänzenden Schilde auf Walhalls Dach. »Als Ungeborener«, sagte er leise und langsam, »habe ich geschworen, daß ich nie aus Angst vor Feuer oder Eisen fliehen werde. Und das habe ich auch nie getan. Weshalb sollte ich im hohen Alter meinen Schwur brechen? Es wird auch niemand meine Söhne verspotten und sagen, sie hätten den Tod gefürchtet, denn jeder muß einmal sterben. Und kein Mensch kann seinem Tod entgehen, wenn die Zeit reif ist. Nein, wir werden nicht umkehren, sondern unsere Hände so tapfer gebrauchen, wie wir können. Ich bin in mehr als hundert Schlachten gezogen. Manchmal war die Zahl meiner Feinde größer, manchmal kleiner, aber der Sieg gehörte immer mir. Niemand soll sagen können, daß ich jetzt fliehe oder um Frieden flehe.«
    Siglind wagte nicht zu atmen. Sie wußte, sie konnte ihrem Vater nicht widersprechen. Langsam ließ sie den Kopf auf die Brust sinken. Aber plötzlich fühlte sie sich von hinten gepackt und in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt. »Siglind!« rief Sigmund glücklich, und sie antwortete eine Oktave höher: »Sigmund!«
    Die Zwillinge umarmten sich und blickten in das Spiegelbild ihrer Gesichter, das sie sich gegenseitig boten. Selbst im schwachen Sternenschein sahen sie jeden Schatten in den vertrauten Zügen. Sigmund war so groß wie Wals. Dichte Haare fielen ihm über die breiten Schultern. Nur in einem der Vorderzähne war ein Stück herausgebrochen, sonst sah Siglind keine Spuren der vielen Kämpfe. Er drückte sie fest an sich, und als sie seinen Körper spürte, war es, als sei ihr Verlangen nach ihm wie eine Harfensaite, die in neun Jahren schlaff geworden war, aber jetzt plötzlich straff gespannt wurde. Das schmerzliche Vibrieren durchfuhr ihren ganzen Körper.
    Nach einer Weile lösten sie sich aus der stummen Umarmung; Sigmund fuhr ihr sanft mit der schwieligen Fingerspitze um die Augen. »Du hast geweint«, sagte er leise, »hat er dir wehgetan?« Siglind schüttelte den Kopf. »Siggeir war immer gut zu mir. Aber ich hatte gehofft... oh, Sigmund, ich bin so froh, dich wiederzusehen, aber ich hatte gehofft, du würdest nie hierher kommen.« Sie konnte nicht mehr weinen, sondern ließ nur erschöpft den Kopf an seine Brust sinken. Sigmund strich ihr über die Haare und lachte unbeschwert.
    »Du machst dir immer noch zuviel Sorgen um mich, Siglind. Mit diesem Schwert in meiner Hand«, er umfaßte den glatten Kristall am Knauf, »was hat Wals' Sohn da schon von einem Goten zu befürchten?«
    Keiner wird diese Waffe in kommenden Zeiten mehr brauchen als er, hörte Siglind im Geist die tiefe Stimme des Fremden, so wie damals vor neun Jahren, als er das Schwert in den

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