Rheingrund
überhaupt die Supereltern. Willst du das Neuste von meinem sogenannten Vater wissen?«
Er flüchtete sich in die übliche Antwort: »Bernhard liebt dich, wie ein Vater seine Tochter nur lieben kann.«
»Nur dass ich davon nichts merke. Du nimmst ihn immer in Schutz!«
»So ist das unter Freunden. Immerhin kenne ich Bernhard seit der ersten Klasse. Und er hat mich herausgeholt.«
Sie schaute nach unten und hob nacheinander in schnellem Wechsel die vertauschten Zehen wie bei einer gymnastischen Übung. »Ihr wart zu dritt, nicht wahr? Früher in der DDR. Du. Bernhard. Und Kai Kristian Bieler.«
Sie ließ die Fußspitzen ruhen und sah ihn an.
Martin schaute zum Fensterbrett. Der fröhliche kleine Buddha, ein Geschenk von Ruth, ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. »Kai ist seit 15 Jahren fort! Neuseeland, oder so.«
»Tasmanien. Marika ist bei ihm!«
»Wie kommst du darauf?«
Sie hob die Beine und ordnete die Füße. »Weil er mein Vater ist!«
»Kai soll dein Vater sein? Und Marika ist bei ihm?« Martin lachte laut auf. »Warum hat sie dich dann nicht mitgenommen? Damit die kleine heile Familie gemeinsam in Tasmanien, oder welchem gottverlassenen Land auch immer, leben kann.«
Das war grausam. Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Sie sank in sich zusammen, schmiegte den Kopf auf die Knie und verschränkte die Finger im Nacken. Er hörte das Schluchzen und beugte sich vor. Als er zögernd die Arme ausstreckte, schreckte sie hoch.
Er riss die Hände zurück. »Das war dumm von mir.«
Sie wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. »Geht schon wieder.«
Er rollte an den Schreibtisch heran und suchte nach einem Päckchen Taschentücher, fand aber nichts und drückte die Schublade wieder zu. »Ruth hat mir erzählt, was Bernhard behauptet. Dass Marika und Kai … Wieso weißt du davon? Hat Bernhard es dir gesagt?«
Inga strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Der redet nichts Privates mit mir. Nee, ich habs mit anhören müssen. So laut, wie sie gestritten haben. Hier!«
Sie griff hinter sich und zog einen Umschlag aus der Hosentasche. Martin überflog das Schreiben. Es fiel ihm leicht, den Überraschten zu spielen. Er besaß Übung im Heucheln. Dieses Gespräch war ein weiterer Mosaikstein in dem Lügenbild, das er für sie bastelte, seit sie Bernhards Vaterschaft misstraute. Sie zweifelte daran, seit sie alt genug war, über biologische Zusammenhänge nachzudenken. Bernhard mit seiner Lieblosigkeit hatte sich nicht die geringste Mühe gegeben, ihren Argwohn zu besänftigen. Warum auch? Was sollte ihm ein Kuckuckskind bedeuten? Er hatte das Kind der Schwiegermutter überlassen und sich damit begnügt, jeden Monat eine Summe zu überweisen, die weit unter dem Beitrag des Golfclubs lag. In der Firma behandelte er sie wie eine beliebige Schreibkraft.
In ihren Augen blitzte Triumph auf. »Ich habe es immer gewusst!«
Martin dagegen gab sich erschüttert. »Ich kann das nicht glauben.«
»Ich werde es beweisen! Sobald Norma ihn gefunden hat, brauche ich nur ein paar ausgerissene Haare.«
»Hast du Ruth davon erzählt?«
Seit Marikas Verschwinden war er mehr und mehr in die Rolle des Vertrauten hineingewachsen. Das galt für beide, für Inga wie für deren Großmutter. Kaum ein Tag verging, ohne dass Ruth ihn anrief. Wegen Marika. Wenn sie mit Inga zerstritten war. Oder weil Arlo eine Amsel erwischt hatte. Ein Grund fand sich immer. Von dem Vaterschaftstest hatte sie nichts erzählt.
Ingas Antwort beruhigte ihn. »Ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll. Und Bernhard erst! Ich wollte vorher mit dir reden. Du hilfst mir immer, wenn ich in der Klemme stecke.«
»Liebe Inga!«
Er griff nach ihrer Hand. Die Haut fühlte sich kühl an. Darunter spürte er die dünnen Fingerknochen. »Behalte dein Geheimnis eine Weile für dich, Inga! Wir dürfen nichts überstürzen. Diese Neuigkeit wird eine Menge Unruhe bringen. Womöglich kostet sie dich deinen Job. Oder glaubst du, er wird dich behalten, wenn er weiß, dass du nicht seine Tochter bist?«
An die eigenen Konsequenzen mochte er gar nicht denken.
5
Dienstag, der 15. April
Kai Kristian Bieler war seit 15 Jahren die erste heiße Spur im Fall Marika. Diese Wendung schenkte Norma einen Vorteil gegenüber ihren Vorgängern, deren Aktivitäten sich weitgehend damit erschöpft hatten, die Vernehmungsprotokolle zu analysieren und bereits bekannten Aussagen nachzugehen. Hinweise auf Bieler tauchten nirgends auf, weder in den
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