Rheinsteigmord - Kriminalroman
zehn Tage Arbeit, um das Ding einzureißen. Und dann geht es erst richtig los. Die Steine müssen abtransportiert werden. Damit das funktioniert, muss man sie Stück für Stück auf einen Anhänger schaffen. Und woanders wieder ausladen.
Der junge Mann schuftet verbissen weiter. Irgendwann zieht er sein Hemd aus und steht jetzt in knielangen Shorts und festen Schuhen da. Immerhin hat er daran gedacht, sich dicke Arbeitshandschuhe anzuziehen. Sonst hat man nach einer solchen Arbeit ruck, zuck Blasen an den Händen. Es ist ja sicher nicht so, dass der Junge gute Hornhaut hat. Die kriegt man nicht, wenn man den lieben langen Tag im Büro sitzt.
Vielleicht will er ja gar nicht die ganze Mauer einreißen, sondern nur einen Durchgang schaffen. Damit ein Bagger oder irgendwas anderes auf die Terrasse hinaufkommt, um dort alles mal so richtig frei zu schneiden.
Während er beobachtet, wie der junge Mann Stein um Stein aus der Mauer löst, wie Stücke abbröckeln und rohe Erde herabrieselt, fragt er sich, wer ihm sagen könnte, was der Kerl da drüben genau vorhat. Er beschließt, Ariane zu fragen, wenn sie mittags nach ihm sieht. Sie wird es nicht wissen, aber sie kann es beim Einkaufen in Erfahrung bringen, in der Fleischerei. Die Schwester der Verkäuferin wohnt doch nur zwei Häuser weiter. Sie hat sich auch so ein weißes Fertigding dahin gesetzt.
Eine Zeit lang ist es langweilig dort drüben.
Der junge Mann macht eine Pause, nachdem er immerhin sechs Steine aus der Mauer gezerrt hat. Er hat sie mit der Spitzhacke nicht nur herausgelöst, sondern einige mit seinen behandschuhten Händen praktisch ausgraben müssen.
Und nun kann er nicht mehr.
Hat er eigentlich was zu trinken dabei? Natürlich nicht. Hat er vergessen. Und seine Frau kommt gar nicht auf die Idee, ihm etwas zu bringen.
Aber Moment mal, der Mann macht nicht den Eindruck, wirklich Pause zu machen. Oder durstig zu sein. Er hat die Hacke auf den Rasen gelegt und beugt sich über die Mauer, als wolle er sich wieder einem besonders hartnäckigen Stein widmen. Aber er tut nichts weiter. Schaut sich nur das Loch zwischen den geschichteten Natursteinen an.
Jetzt dreht er sich um und hebt die Hacke auf. Sieht aus, als hätte er schon ein bisschen Routine. Er hat gelernt, seine Kräfte richtig einzusetzen.
Er legt die Metallspitze in das Loch und …
Er schlägt nicht, sondern gräbt.
Eine ganze Weile gräbt er, aber es ist aus dieser Perspektive nicht zu erkennen, wonach. Da kann man das Fernglas noch so scharf stellen. Da ist was zwischen den Steinen, aber was?
Das Türschloss unten knirscht. Schritte sind auf den Steinfliesen im Flur zu hören. Ariane kommt.
Er sieht zur Uhr. Schon Mittag. Wie die Zeit vergeht.
Sie soll nicht sehen, dass er hier mit dem Fernglas sitzt. Er behauptet immer, dass er nur Vögel beobachtet, aber sie weiß genau, dass das nicht stimmt. So schwer es ihm fällt, er legt den Feldstecher zur Seite und tut so, als würde er schlafen. Alte Männer nicken hin und wieder ein, das ist ganz normal.
Mit geschlossenen Augen hört er, wie sie die Zimmertür öffnet. Einen Moment ist es still. Er spürt ihren Blick auf sich ruhen. Dann verlässt sie den Raum wieder.
Er wartet noch ein paar Sekunden, bevor er wieder zum Fernglas greift. Er beißt die Zähne zusammen, als ihm der Schmerz durch die Finger fährt.
Der junge Mann hat seine Frau geholt und deutet auf die Stelle, an der er gearbeitet hat. Er gestikuliert wild. Seine Frau wirkt ruhiger, sie nimmt die Sache genau in Augenschein. Schüttelt den Kopf. Fährt sich durch das dunkle Haar.
Der Mann geht auf die Mauer zu. Seine Frau will ihn zurückhalten. Sie packt ihn am Arm, aber er wehrt sie kopfschüttelnd ab. Vor der mannshohen Wand aus Natursteinen duckt er sich.
Und verschwindet.
1
Es war ein Brüllen, ein Scheppern, ein Prasseln. Ohrenbetäubend und von schweren Vibrationen begleitet – wie bei einem Erdbeben.
Fred Bleikamp hob verschlafen den Kopf. Ein Kreischen zuckte durch seinen Schädel, bis hinunter ins Rückenmark. Der Traum, in dem er aus der Ferne irgendwelche undefinierbaren Rufe wahrgenommen hatte, glitt von ihm ab. Mühsam setzte er sich auf, öffnete die Augen und registrierte, dass der Wecker acht Uhr sechsundvierzig zeigte.
Auf einmal herrschte Stille. Dann ging das Brüllen und Scheppern wieder los.
An der gegenüberliegenden Wand starrte ihm von einem Poster der Eiffelturm entgegen. Das Bild schien sich noch einen Moment dagegen aufzubäumen, dann
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