Richard Dübell
einfachste Schritt war. Es war der schwierigste, und jetzt, da es so weit war, beschlich ihn Furcht.
Konstantin Heigl starrte zur Fensteröffnung hinaus. Ursprünglich war sie durch einen Metallrahmen mit einem Gitter vor der Glasscheibe geschützt gewesen, doch es war einfach gewesen, den Metallrahmen herauszunehmen. Früher schien es eine Lade gegeben zu haben, die der Türmer in die Öffnung klemmen konnte, und einen schmalen Balken, mit dem sie sich von innen sichern ließ. Die beiden Metallbügel, in die man den Balken hatte einlegen können, ragten noch links und rechts neben der Fensteröffnung aus dem Gemäuer. Konstantin starrte hinaus und sah – nichts. Einer der Scheinwerfer auf dem Hausdach gegenüber, die den Turm nachts beleuchteten, schien direkt auf die Fensteröffnung. Es war fast, als ob er auf einer Bühne stünde und in den Zuschauerraum schaute, nur dass der Zuschauerraum ein großes schwarzes Nichts war, weil das Bühnenlicht auf ihn gerichtet war und ihn blendete. Er fragte sich, ob es diese unvermutete Analogie war, die ihn zögern ließ. Alles erschien auf einmal so unwirklich, und er kam sich vor wie ein Schauspieler, der ohne nachzudenken einem Skript gefolgt war, das sich am Ende als schlecht erwies.
Oder war es nur das Wissen um den eigenen Tod und die Angst davor, die ihn aufhielten? Er fühlte eine Art Bedauern in sich aufsteigen, Reue darüber, was er getan hatte. Er bekämpfte dieses Gefühl, indem er sich daran zu erinnern versuchte, wie diese Reue ihm früher immer eingeredet worden war.
Schau dir deinen Bruder an, der interessiert sich wenigstens für irgendwas! Und du? Dir ist nichts wichtig!
Mein Bruder interessiert sich nicht für deinen Scheiß, er redet dir nur nach dem Mund!
Du passt zu deiner Mutter – das gleiche Desinteresse, der gleiche beschränkte Horizont!
Wer hat denn den beschränkten Horizont? Wer interessiert sich denn ausschließlich dafür, was vor fünfhundert Jahren passiert ist? Wer glaubt denn, sein Seelenheil hänge nur davon ab, dass irgendein beschissener Vorfahre, der in keinem Geschichtsbuch auftaucht und den kein Mensch kennt, von dem Vorwurf reingewaschen wird, er habe irgendeinen beschissenen Schmuck geklaut?
Du hast keinen Stolz. Nichts bedeutet dir was. Du lebst nur im Hier und Jetzt. Ich schäme mich, so einen Sohn zu haben.
Immer die gleichen Gespräche. Immer die aufgesetzte beleidigte Würde, mit der er konfrontiert worden war und die ihn ins Unrecht setzte. Immer sein aufflammender Jähzorn. Immer das hilflose Gesicht Erics, dem man ansah, dass er eigentlich seiner, Konstantins, Meinung war, aber zu wenig Mut besaß, das offen zu sagen. Das war das Schlimmste – die mutlose Miene seines Bruders und seine Tatenlosigkeit. Wenn er sich wenigstens gegen Konstantin gestellt hätte, wäre es weniger übel gewesen als diese Darstellung jämmerlicher Feigheit. Und wenn der Streit vorüber war und jedes Familienmitglied in einer anderen Ecke vor sich hin brütete, kam Eric angekrochen und versuchte, Konstantin zu trösten …
Hau ab, du Arschkriecher!
Und immer die Tränen seiner Mutter, die ihre Familie, die einzige Welt, die sie hatte, mehr und mehr zerfallen sah und nicht wusste, was sie dagegen unternehmen sollte … Und am Ende der Sarg, in dem sie lag, und die Gewissheit, dass sein Vater für ihren Tod so verantwortlich war, als wenn tatsächlich er es gewesen wäre, der ihr die Waffe an den Kopf gehalten und abgedrückt hatte. Die Waffe, die Konstantin auf dieser Mission begleitet hatte.
Konstantin wandte sich mit einem Ruck vom Fenster ab und überblickte den kleinen Raum, den das gleißende Licht von draußen in eine Ansammlung von hellen Flächen und Schlagschatten verwandelte.
Harald und Flora Sander, die beiden Polizisten, saßen auf dem Boden. Er hatte sie gezwungen, sich dorthin zu setzen. Harald zu überwältigen war leicht gewesen. Er hatte erwartet, dass der Polizist einen Trick versuchen würde, wenn er den Schmuck übergab. Nicht zuletzt deshalb hatte er ihn so nahe an sich herangelassen. Als er auf dem Wall aufgetaucht war, an dessen Fuß Konstantin seine Geiseln versammelt hatte, hatte er ihm befohlen zu warten. Er hatte es getan, damit Harald sich ein Bild von der Lage machen konnte – die wie eine Schulklasse für das Klassenfoto aufgereihten Geiseln, direkt vor ihnen die beiden von Picknickdecken verhüllten Gestalten, eine davon offensichtlich Konstantin, die andere eine Geisel … genau wie in München. Und
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