Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
weiß, dass Walther in diesem Kurzlehrgang so viel formale Sicherheit gefunden hat, dass er im entscheidenden Augenblick die Inspiration zum dritten Bar schon fi nden wird: »Dann Wort und That am rechten Ort!« (GS VII, 242)
Walthers Gegenspieler Beckmesser hingegen zieht mit dem erst bis zum zweiten Bar schriftlich gediehenen und ›geliehenen‹ Gedicht auf die Festwiese und erleidet, an das geschriebene Wort gefesselt – wie seine ständigen ängstlichen Blicke in das mitgebrachte Textblatt zeigen –, den bekannten Schi ff bruch: seine Buchstabentreue wird ihm zum Fallstrick, während Walther sich beim ö ff entlichen Vortrag seines Lieds über den von Sachs notierten Text erhebt und ihn, vom Augenblick inspiriert, von neuem abwandelt. Das Kunstwerk der Zukunft als work in progress. Der Wandel von der freien über die fi xierte zur neuen Improvisation, welche die Konvention durchbricht und doch nicht beleidigt, der so geglückte Ausgleich zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort, notiertem und phantasiertem Gesang: das ist Wagners ästhetisches Ideal, das für ihn den utopischen Endpunkt der Kunstentwicklung bildet.
Sachsens ästhetische Strategie hat notwendig ein Opfer: Beckmesser als den Pedanten und Doktrinär, der die Ö ff nung der Tradition in die Zukunft verhindert. Der gelehrte Pedant ist seit der Renaissance nicht nur ein beliebtes Objekt der Moralistik gewesen (Montaigne), sondern er gehört auch zu den traditionellen Typen der Stegreifkomödie: der Dottore der Commedia dell’arte. Wagner knüpft im Rahmen der Farcenhandlung, in deren Mittelpunkt Beckmesser steht, souverän an den Typen- und Motivschatz der europäischen Komödie an. Der alternde Liebhaber, nicht selten der gelehrte Pedant, dem ein jüngerer durch eine Intrige die fast schon sichere Braut wegschnappt – das ist ein immer wieder abgewandeltes Handlungsschema der Stegreifkomödie und ihrer Nachfolger. Auch Beckmesser muss sich eine – freilich recht drastische – Poetik-Lektion Sachsens gefallen lassen. Er ist die Karikatur des von Wagner in Oper und Drama kritisierten ›absoluten Melodikers‹, der seine poetische Vorlage missachtet und durch sinnwidrige Phrasierung die Sprache vergewaltigt. »Mich dünkt, s’sollt’ passen Ton und Wort«, hält Sachs Beckmesser vor (GS VII, 220). Anders als bei Walther schlägt Sachsens Unterweisung jedoch nicht an. Beckmesser macht sich schließlich selbst zum Außenseiter, da er in dem von Sachs inszenierten Vermittlungsspiel zwischen Alt und Neu als einziger unbelehrt zurückbleibt. Er, der starre Repräsentant der künstlerischen Normalität, löst am Ende dasselbe Befremden aus wie eingangs der ritterliche Außenseiter; dessen Poesie wird umgekehrt in der Schlussszene in die bürgerliche Vorstellungswelt integriert, die damit unmerklich ihren Horizont erweitert. Die bisher verschlossene Pforte zum ›Kunstwerk der Zukunft‹ steht nun weit o ff en.
Wagner hat in seinen Prosaentwürfen von 1861 Beckmesser den Namen seines Erzfeindes, des Wiener Kritikers Eduard Hanslick, gegeben. Aus diesem Faktum hat man die These abgeleitet, der düpierte Pedant sei eine Judenkarikatur. Diese Behauptung, immerhin prominent vertreten auch von Theodor W. Adorno und Thomas Mann, lässt sich jedoch nicht halten (ganz zu schweigen von den rabulistischen Versuchen, ihn mit Grimms Märchen vom Juden im Dorn oder seinen Gesang mit jüdischer Sakralmusik sowie der Polemik gegen sie in Wagners Pamphlet Das Judenthum in der Musik in Verbindung zu bringen). Mit den vermeintlich typischen Berufs- und sozialen Rollenfeldern der Juden hat der Stadtschreiber nichts zu tun. Bezeichnenderweise trägt er im Textbuch den humanistisch latinisierten Vornamen Sixtus. Wie der Famulus Wagner in Goethes Faust ist er eine Karikatur humanistischer Buchgelehrsamkeit und zudem jener überständigen aufgeklärten Regelpoetik, durch die Generationen zuvor der historische Sachs in Misskredit gebracht worden war. Jetzt wird diese Poetik selbst zum Gegenstand des Spotts.
Wagner kann zudem erst nach dem Zerwürfnis mit Hanslick den Merker mit dem (als Jude ausgegebenen) Kritiker identi fi ziert haben. Zur Zeit des Marienbader Entwurfs stand Wagner mit Hanslick noch in bestem Einvernehmen, hatte dieser doch den (im selben Jahr uraufgeführten) Tannhäuser hoch gepriesen. Die Vorstellung, dass er ihn schon zu diesem Zeitpunkt zum Urbild Beckmessers gemacht haben könnte, wäre abwegig. Im Marienbader Entwurf aber steht die Figur des
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