Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Merkers in allen komischen Grundsituationen bereits fest. Wagners Behauptung, durch seine Lesung der Meistersinger in Wien am 13. November 1862 sei Hanslick zu seinem unerbittlichen Gegner geworden, da er – nach Meinung von Wagners Freunden – »diese ganze Dichtung als ein gegen ihn gerichtetes Pasquill« angesehen habe (ML 720), ist mit Vorsicht aufzunehmen. Hanslick selber hat in seiner Autobiographie Aus meinem Leben gerade die Figur Beckmessers als besonders geglückt empfunden; so auch schon in seiner Rezension der Wiener Erstaufführung der Meistersinger am 27. Februar 1870, die nichts davon ahnen lässt, dass er den Verdacht gehegt hat, der Komponist könnte mit Beckmesser ihn selber gemeint haben.
Das Schlussbild der Meistersinger stellt eine monumentale ästhetische Utopie dar, in die sich Walthers Preislied – in der sich immer mehr verdeutlichenden Gestaltung und Exegese seines Morgentraums – sinnvoll einfügt. In diesem Traumbild vereinigen sich in der Gestalt der Geliebten, die biblische Eva und humanistische Muse zugleich ist, »Parnaß und Paradies« (GS VII, 268), Kunst und Lebensglück. Der Traum wird durch die Realität bestätigt: Eva drückt Walther einen »aus Lorbeer und Myrten ge fl ochtenen Kranz« auf die Stirn (GS VII, 269): Sängerpreis und Liebeszeichen zugleich. Die Meistersinger haben wie Goethes Hermann und Dorothea und Schillers Glocke eine Art Mythos deutscher Bürgerlichkeit gedichtet – ein Bürgertum, das es indes nie gegeben hat, ja das im Falle der Meistersinger einer »auf Schacher und Geld« (GS VII, 172) fi xierten Bourgeoisie entgegengesetzt ist. Deren Dämon aber beschwört der Ring des Nibelungen , dem Wagner sich nach den ›Zwischenspielen‹ des Tristan und der Meistersinger wieder zuwendet.
Das Tribschener Idyll – mit philologischer Begleitung: Nietzsche
Auf ihrer Reise von Genf über Lausanne, Bern und Interlaken gelangen Richard Wagner und Cosima am 30. März 1866 zum Vierwaldstätter See und entdecken das idyllische Haus Tribschen auf einer Halbinsel bei Luzern. Wenige Tage später mietet Wagner das Haus, das er am 15. April bezieht. Die Mietkosten werden natürlich von Ludwig II. übernommen. Cosima hält sich mehrfach mit ihren Kindern in Tribschen auf, bis sie am 16. November 1868 endgültig dorthin übersiedelt, nachdem Wagner und sie beschlossen haben, ihre Beziehung nicht länger zu verbergen und Bülow auf ihr Drängen hin der Scheidung zugestimmt hat. Am 1. Januar 1869 beginnt Cosima – als Initial des gemeinsamen Lebens mit Wagner – ihr Tagebuch, das bis zu Wagners Tod fast jeden Tag ihres Lebens dokumentiert. Am 17. Februar 1867 wird Eva, das zweite Kind Wagners und Cosimas, und am 6. Juni 1869 nach zwei Töchtern der heißersehnte Sohn Siegfried in Tribschen geboren. Am 25. August 1870 werden Richard und Cosima Wagner in der protestantischen Kirche zu Luzern getraut, nachdem Cosimas Ehe mit Bülow am 18. Juli in Berlin gerichtlich geschieden worden ist.
Sechs Jahre – bis zur Übersiedlung nach Bayreuth am 22. April 1872 – wird Wagner mit Unterbrechungen in Tribschen leben und wirken. Hier werden am 24. Oktober 1867 die Meistersinger vollendet und am 5. Februar 1871 der nach langer Unterbrechung wieder aufgenommene Siegfried (dessen Partitur Wagner jedoch nach den erzwungenen Uraufführungen des Rheingold und der Walküre nicht aus der Hand gibt); und es entsteht die gesamte Kompositionsskizze der Götterdämmerung. Im August 1868 skizziert Wagner ein Stück über Luthers Hochzeit (WWV 99) – ein Plan, den Thomas Mann später aufgreift (es wird sein letzter Werkplan sein). Zu Cosimas Geburtstag, am Weihnachtsmorgen des 25. Dezember 1870, führt Wagner (in Anwesenheit Nietzsches) das geheim komponierte, in der Zweitschrift der Partitur noch »Tribschener Idyll« genannte Siegfried-Idyll (WWV 103) im Treppenhaus der Tribschener Villa auf (eine merkwürdige Parallele zur Uraufführung der orchestrierten Träu me im Treppenhaus der Villa Wesendonck zu Mathildes Geburtstag am Morgen des 23. Dezember 1857). Das »Tribschener Idyll« ist aber nicht nur der ursprüngliche Titel von Wagners symphonischem Satz, sondern auch das Stichwort Cosimas für die Welt ihrer Villa am Vierwaldstätter See. (Dass die neuen Hausbewohner und auch Nietzsche Tribschen gern mit ›ie‹ schreiben, hängt mit Wagners falscher etymologischer Spekulation zusammen, der Name bedeute »angetriebener Sand«.)
Einige der bedeutenden theoretischen Spätschriften Wagners
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