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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Erscheinungen die Literatur des 19. Jahrhunderts, zumal der europäische Roman, dessen bedeutendster Repräsentant für ihn Balzac gewesen ist. Die Comédie humaine bildete für ihn eine »ganz unvergleichliche Erscheinung« (GS VIII, 91 f.), mit der er sich bis an sein Lebensende immer wieder befasste. Hinzu kommen philosophische Schriften – allen voran natürlich Schopenhauer –, die Werke befreundeter Autoren und wissenschaftliche Abhandlungen, besonders im Zusammenhang mit den Quellen seines eigenen Werks. Von der Gegenwartsliteratur seiner Zeit hat er nur sporadisch Notiz genommen. Immerhin wird er mit großer Anteilnahme wenige Wochen vor seinem Tod noch Tolstois Krieg und Frieden in französischer Übersetzung lesen (CT II, 1062 ff .). Wagners Bibliotheken in Dresden vor seinem Exil und in Wahnfried« spiegeln seinen weitgespannten Lektüre-Kosmos, ohne jedoch ein vollständiges Bild seiner literarischen Interessen zu bieten.
    Wiederholt kehrt Wagner von Tribschen nach München zurück, zumal zu Audienzen beim König und im Umkreis der von ihm geleiteten Uraufführung der Meistersinger. Eine der wichtigsten Reisen in der Tribschener Zeit führt ihn im April und Mai 1871 durch Deutschland. Am 16. April reift bei seinem Bayreuth-Besuch der Entschluss zum Theaterneubau in der fränkischen Residenz. Am 28. April hält er in Berlin den für die Königliche Akademie der Künste, die ihn 1869 zum Mitglied gewählt hat, verfassten Vortrag Über die Bestimmung der Oper. Am 5. Mai fi ndet im Berliner Opernhaus in Anwesenheit des ganzen Hofes ein Konzert statt, bei dem Wagner den Kaisermarsch , Beethovens c-Moll-Symphonie und Ausschnitte aus seinen dramatischen Werken dirigiert.
    Zwei Tage zuvor hatte ihn auf sein Betreiben hin Bismarck zu einem Gespräch empfangen. Doch dieses Gespräch gelangt nicht über diplomatische Höflichkeiten hinaus. Wagner lässt sich durch die Liebenswürdigkeit Bismarcks einwickeln, deren Unverbindlichkeit er o ff enbar nicht durchschaut. »R. ist ganz entzückt von der ächten Liebenswürdigkeit dieses Naturells«, notiert Cosima (CT I, 384), wohingegen Bismarck sich über Wagner gegenüber Dritten anschließend recht herablassend äußert. Während er 1866 den Komponisten als Vermittler bei Ludwig II. zu gewinnen suchte, hat er ihn jetzt nicht mehr nötig. Mit diplomatischer Ra ffi nesse verhindert er, dass Wagner sich eine Gelegenheit bietet, eine fi nanzielle Unterstützung seines Festspielunternehmens zur Sprache zu bringen. Erst am 24. Juni 1873 sucht Wagner nachzuholen, was der Kanzler bei der Audienz geschickt verhindert hat: nämlich den »großen Neubegründer deutscher Ho ff nungen« um Unterstützung des »Kulturgedankens« zu bitten, »welcher mich beseelt«. Und er glaubt wohl, glühende Kohlen auf Bismarcks Haupt zu legen, wenn er ihn daran erinnert, wie »fremd und kalt« Friedrich der Große dem »Schicksale der Neugeburt des deutschen Geistes durch unsere großen Dichter der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts« gegenübergestanden hat. Trotz aller captatio benevolentiae vonseiten Wagners hielt Bismarck es nicht für nötig, auf seinen Brief auch nur mit einer einzigen Zeile zu antworten. Dass er so dem »großen Friedrich« in Wagners Augen unvorteilhaft glich, kümmerte ihn o ff enbar wenig. Wagner gab gleichwohl nicht auf. Im Dezember 1875 bemühte er sich erneut um Unterstützung aus Berlin. Diesmal erhielt er von Bismarck eine kurze Antwort, in welcher der Kanzler, gar nicht mehr so liebenswürdig wie bei der persönlichen Begegnung, rundum ablehnte, Wagner in irgendeiner Weise Hilfestellung zu leisten. Er solle sich gefälligst an den deutschen Reichstag wenden, anstatt dem Vielbeschäftigten Briefe zu schreiben. Wagner selbst deutet in seinem Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876 (1878) all diese Bemühungen an – und zieht die Konsequenzen: »Ich hatte bald von Reich und Kanzel [Kanzler!] genug.« (GS X, 107) Im Herbst 1888, fünf Jahre nach Wagners Tod, unternahm noch einmal Cosima den Versuch, die Unterstützung des neuen Kaisers für die Bayreuther Festspiele zu erlangen – vergeblich, wie zu erwarten war; Bismarck lehnte das Unterfangen in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Kaiser als bedenklichen Präzedenzfall erneut entschieden ab.
    Abb. 24 : Richard Wagner mit seiner Tochter Eva in Tribschen, 1867

    Inmitten all seiner Reisen und Sorgen um die Zukunft bildete Tribschen für Wagner immer wieder einen Rückzugsort von

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