Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
( Über das Dirigiren , 1869; Beethoven , 1870; Über die Bestimmung der Oper , 1871) und mehrere autobiographische Essays ( Meine Erinnerungen an Ludwig Schnorr von Carolsfeld , 1868; Eine Erinnerung an Rossini , 1868; Erinnerungen an Auber , 1871) werden in diesen Jahren verfasst, die Gesammelten Schriften und Dichtungen erscheinen seit 1871, das Diktat von Mein Leben (dessen erster Band 1870 wie erwähnt in wenigen Exemplaren als Privatdruck erscheint) wird fortgesetzt. In Tribschen fällt auch die Entscheidung für Bayreuth als Festspielstadt.
Abb. 23 : Haus Tribschen am Vierwaldstättersee
Das Tribschener Haus stand (und steht als Gedenkstätte bis heute), von Bäumen umgeben und in paradiesischer Lage, auf einem Grundstück, zu dem auch ein Bauernhaus gehörte, in dem die vier Dienstboten Wagners wohnten und zwei Pferde ihren Stall hatten, zudem ein Pfauenhaus, in dem die Pfauen Wotan und Fricka untergebracht waren. (Ob Kinder oder Haustiere, sie mussten Namen aus Wagnerschen Musikdramen tragen.) Das dreistöckige Haupthaus verfügte über fünf oder sechs Zimmer, die nicht nur der großen Familie – der bis 1864 einsame und kinderlose Wagner scharte plötzlich (mit den beiden Bülow-Töchtern Daniela und Blandine) eine sechsköp fi ge Familie um sich –, sondern auch ständigen Hausangehörigen wie dem Dirigenten Hans Richter und den zahlreichen Gästen aus aller Welt ausreichend Platz bot. Zu diesen Gästen gehörten neben alten und neuen Freunden wie Liszt, Bülow, Semper, Peter Cornelius, Malwida von Meysenbug und schließlich Nietzsche zumal die französischen Wagnerianer: die Schriftsteller Catulle Mendès und seine Frau Judith Mendès-Gautier (die Tochter von Théophile Gautier), Auguste Villiers de L’Isle-Adam und Edouard Schuré oder die Komponisten Henri Duparc und Camille Saint-Saëns.
Die französischen Freunde hatten es in diesen Jahren angesichts des Deutsch-Französischen Kriegs (1870/71) und des Frankreich demütigenden Friedens der ›Siegernation‹ nicht leicht mit Wagner, der aus seiner nicht selten chauvinistischen Parteinahme und Begeisterung für das neue Deutsche Reich keinen Hehl machte. Ihnen gab er nicht nur in seinen Gesprächen und Briefen Ausdruck, sondern auch literarisch: in seinem den neunten Band seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen einleitenden Gedicht An das deutsche Heer vor Paris (Januar 1871), das er gar Bismarck zusandte, im durch seine Aristophanes-Lektüre inspirierten »Lustspiel in antiker Manier« Eine Kapitulation (WWV 102, 1870), das die französische Intelligenz, allen voran Victor Hugo, mit Spott überzog, und selbst im Schlussteil einer so bedeutenden ästhetischen Schrift wie Beethoven (1870). Auch musikalisch zollte er in seinem Kaisermarsch (WWV 104, 1871) dem Deutschen Reich Tribut.
In Tribschen führt Wagner einen genau strukturierten Tagesablauf ein, den er später in Bayreuth weithin übernimmt: mit eisern für das Komponieren reserviertem Vormittag, locker gestaltetem Nachmittag – der von Siesta, Korrespondenz, Spaziergängen bestimmt und später erneut dem Komponieren gewidmet ist – und einem Abend, welcher meist privater oder gemeinsamer Lektüre, Musizieren und Gespräch vorbehalten bleibt. Durch die häu fi gen Reisen, die Aus fl üge und Wanderungen durch die herrliche Schweizer Seen- und Gebirgslandschaft, vor allem zum heißgeliebten Pilatus hinauf, wird dieser Tagesablauf natürlich immer wieder durchbrochen. Die Tagebücher Cosimas, welche Wagners Lebensrhythmus genau nachzeichnen, bieten ein imposantes Panorama der Wagnerschen Bildungsinteressen, zumal seiner literarischen, die von seinen akuten Arbeitsplänen vielfach unabhängig sind. Von den großen Komponisten der Musikgeschichte ist Wagner einer der größten Leser. Im Laufe seines Lebens hat er sich einen weltliterarischen Horizont angeeignet, der für einen produktiven Musiker ziemlich einzigartig ist.
Die Schwerpunkte seines literarischen Interesses bildeten die klassische griechische Antike in nahezu allen wesentlichen Erscheinungen (der römischen stand er eher distanziert gegenüber, die christliche Spätantike spielte für ihn kaum eine Rolle), seit der Beschäftigung mit Schopenhauer die altindische Literatur, die altnordische und deutsche Literatur des Mittelalters, Dante, Shakespeare, die spanische Literatur des Siglo de Oro, die deutsche Literatur im weiteren Umkreis der Klassik und Romantik – von Heinse bis Heine – und in einzelnen bedeutenden
Weitere Kostenlose Bücher