Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
ideal-idyllischem Gepräge. Das aus der Sicht der Nachwelt wichtigste intellektuelle Ereignis der Tribschener Jahre ist Wagners Freundschaft mit Friedrich Nietzsche (1844–1900). Dieser ist Wagner am 8. November 1868 im Hause des – mit seiner Schwester Luise verheirateten – Orientalisten Hermann Brockhaus in Leipzig zum ersten Mal persönlich begegnet. Erst wenige Monate zuvor hat er seinen ›Durchbruch‹ zu dem ihm bis dahin eher fremden Komponisten erfahren. »Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten«, schreibt Nietzsche am 27. Oktober 1868 an seinen Freund Erwin Rohde, den späteren bedeutenden klassischen Philologen, nachdem er im Konzert das Vorspiel zu Tristan und Isolde und die Ouvertüre zu den Meistersingern gehört hat; »jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre.« (NW 308) Und in seinem Brief vom 8. Oktober steht der berühmte Satz, der Thomas Mann zeitlebens fasziniert hat, ja in dem sich für ihn das ganze Wesen des noch nicht durch die Lehre vom Übermenschen und vom Willen zur Macht vermeintlich von sich selber abgefallenen Nietzsche zusammenfasst: »Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc.« (NW 307 f.) Ausgerechnet diese ethische Aura des ›Kreuzes‹ wird Nietzsche paradoxerweise später – im Hinblick auf Parsifal – als den tiefsten Grund der Entzweiung mit Wagner ausgeben. 1868 deutet er Wagner noch ganz im Geiste Schopenhauers – und im Geiste Schopenhauers werden er und Wagner sich fi nden: »ein längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer« (an Rohde, 9. November 1868; NW 311) wird die Krönung der ersten Begegnung zwischen Wagner und Nietzsche im Hause Brockhaus bilden.
Zu Recht erkannte Wagner in dem jungen Philologen einen ergebenen Jünger seiner Kunst und suchte ihn deshalb an sich zu binden. Ein halbes Jahr später, am 17. Mai, dem P fi ngstmontag 1869, macht Nietzsche, seit Beginn des Jahres zum außerordentlichen Professor für klassische Philologie in Basel ernannt, seinen Antrittsbesuch in Tribschen: die erste Begegnung mit Cosima von Bülow. Diese emp fi ndet seinen Besuch als so angenehm, dass sie ihn zu Wagners Geburtstag am 22. Mai einlädt. Doch Nietzsche muss wegen dienstlicher Verp fl ichtungen absagen. An die Stelle des Besuchs in Tribschen tritt jener berühmte erste Brief Nietzsches an Wagner, an dessen 56. Geburtstag geschrieben, der zwar nicht dem intellektuellen Range nach, aber doch als Gründungsdokument einer epochalen Beziehung mit dem großen Schillerschen Geburtstagsbrief an Goethe im Jahre 1794 zu vergleichen ist und der mit dem Satz beginnt: »Wie lange habe ich schon die Absicht gehabt, einmal ohne alle Scheu auszusprechen, welchen Grad von Dankbarkeit ich Ihnen gegenüber emp fi nde; da sich thatsächlich die besten und erhobensten Momente meines Lebens an Ihren Namen knüpfen und ich nur noch einen Mann kenne, noch dazu Ihren großen Geistesbruder Arthur Schopenhauer, an den ich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam denke.« Nietzsche setzt seine Beziehung zu Wagner unter ein gleichsam trinitarisches Vorzeichen: die Vater-Sohn-Beziehung Wagner-Nietzsche lebt in und durch den ›Heiligen Geist‹ Schopenhauers. Der gemeindebildenden Tendenz der Wagnerschen Kunstanschauung gemäß zählt er sich zu den »pauci« – den ›happy few‹ würden wir heute sagen –, die allein imstande seien, den »Genius« des Meisters in seiner ganzen Tiefe zu erfassen (NW 12). In seinem Geburtstagsbrief des nächsten Jahres (vom 21. Mai 1870) vergleicht er sich mit den »seligen Knaben« der Bergschluchten-Szene von Goethes Faust II und Wagner mit dem »Pater seraphicus« sowie den Mystagogen der Antike, die in die Mysterien einführten: »mögen Sie mir bleiben, was Sie mir im letzten Jahre gewesen sind, mein Mystagog in den Geheimlehren der Kunst und des Lebens« (NW 83). Nietzsche hat das Vertrauen Cosimas bei seinem ersten Besuch, dem in den nächsten Jahren 22 folgen werden, spontan gleich so gewonnen, dass sie gegen seinen zweiten Besuch in Tribschen, der ausgerechnet in die Tage ihrer Entbindung fallen sollte, nichts einzuwenden hat. Am 6. Juni 1869 wird Siegfried – mit Kosenamen Fidi genannt – geboren. Ihrem neuen jungen Freunde Nietzsche haben Wagner und seine Frau bald die Rolle eines familiären
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