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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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undenklich« (GS X, 226).
    Wagner hat die Missachtung des Tiers immer wieder als Schattenseite der christlichen Zivilisation angesehen, gegen welche er die fernöstliche Ehrfurcht vor dem Tier ausspielt. Das wichtigste Dokument dafür ist sein gegen die Vivisektion gerichtetes O ff enes Schreiben an Herrn Ernst von Weber, Verfasser der Schrift: »Die Folterkammern der Wissenschaft (1879). In dieser Hinsicht stimmt er vollständig mit Schopenhauer überein, der es als einen »Grundfehler des Christentums« bezeichnet, »daß es widernatürlich den Menschen losgerissen hat von der Tierwelt, […] die Tiere geradezu als Sachen betrachtend; – während Brahmanismus und Buddhaismus […] die augenfällige Verwandtschaft des Menschen, wie im allgemeinen mit der ganzen Natur, so zunächst und zumeist mit der tierischen, entschieden anerkennen und ihn stets, durch Metempsychose und sonst, in enger Verbindung mit der Tierwelt darstellen. Die bedeutende Rolle, welche im Brahmanismus und Buddhaismus durchweg die Tiere spielen, verglichen mit der totalen Nullität derselben im Juden-Christentum, bricht, in Hinsicht auf Vollkommenheit, diesem letzteren den Stab; so sehr man auch an solche Absurdität in Europa gewöhnt sein mag.« ( Parerga und Paralipomena XV, § 177)
    Parsifal erscheint zu Beginn ganz und gar in Blindheit befangen, beherrscht vom Nichtwissen um die Leidensgestalt der Welt. »Ich wußte sie nicht«, lautet seine Antwort auf Gurnemanz’ Frage »Erkennst du deine große Schuld?« (GS X, 335). Und dieses Nichtwissen wird mehrfach bekundet; es besteht nicht nur in geistiger, sondern auch in emotionaler Blindheit, wie nicht nur die Tötung des Schwans, sondern auch und vor allem Parsifals tieferes Unberührtsein von Amfortas’ Leiden zeigt. Durch das Mitleiden dieses Leidens bis zur völligen Identi fi kation mit demselben in der Vision des zweiten Aufzugs – »Die Wunde sah ich bluten: – / nun blutet sie mir selbst« (GS X, 358) – gelangt Parsifal schließlich jedoch zu jenem Wissen über Sein und Entstehung des Leidens – »durch Mitleid wissend / der reine Thor« (GS X, 333) –, das zum Kern der buddhistischen Lehre gehört und zur Erlösung führt.
    Mehr noch als Parsifal ist Kundry eine Gestalt, die nur vor dem Hintergrund der brahmanischen und buddhistischen Wiedergeburtslehre zu verstehen ist. Im ersten Prosaentwurf zum Parsifal von 1865 schreibt Wagner: »Kundry lebt ein unermeßliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, infolge einer uralten Verwünschung, die sie, ähnlich dem ›ewigen Juden‹, dazu verdammt, in neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen.« (SS XI, 404) Was ihre Verwünschung – und den Zwang immer neuer Reinkarnation – bewirkt hat, ist das Verlachen Jesu auf dem Kreuzweg: der Ursituation des Leidens, die zum Mitleiden aufruft. In der Unterlassung des Mitleidens bei der Wiederkehr dieser Ursituation, nämlich angesichts des Leidens des Amfortas, besteht aber auch die tragische Verfehlung Parsifals im ersten Aufzug.
    Kundry aber unterlässt das Mitleid nicht nur, sie nimmt – noch über die Unbarmherzigkeit Ahasvers hinausgehend, der den kreuztragenden Jesus mit einem Stoß zum Weitergehen antreibt – eine Gegenhaltung zum Mitleid ein, sucht es gewissermaßen durch ein Gegenprinzip außer Kraft zu setzen: das Lachen. Ihr Verhängnis ist, dass sie dieses Lachen in allen Reinkarnationen wiederholen muss. Erst in ihrer letzten Wiederverkörperung löst die Entsagung Parsifals ihren Fluch, ist ihr das Weinen vergönnt, das ihr zwanghaftes Lachen für immer auslöscht, das karmische Verhängnis ihres Verführungsdrangs, das sie immer aufs neue an das Rad des Samsara fesselt, aufhebt und den Weg zur wiedergeburtslosen ewigen Ruhe im Nirwana frei macht.
    In einem Gespräch am 6. Januar 1881 bemerken Wagner und Cosima, dass Parsifal und die Sieger »ungefähr dasselbe Thema« behandeln, nämlich die »Erlösung des Weibes« (CT II, 659). Die Parallelen zwischen Parakriti und Kundry sowie zwischen Ananda und Parsifal sind in der Tat nicht zu übersehen: hier wie da die Verhöhnung eines Unglücklichen als Verneinung des Mitleids mit dem Leidenden – das die von Schopenhauer geprägte metaphysische und ethische Mitte des Parsifal wie der Sieger bildet –, die Buße dafür in einem späteren Leben: als Qual ho ff nungsloser Liebe, hier Parakritis zu Ananda, dort Kundrys zu Parsifal.
    Ja, eine Verwünschte mag sie sein:
hier lebt sie

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