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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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heut’, –
vielleicht erneut’,
zu büßen Schuld aus früher’m Leben,
die dorten ihr noch nicht vergeben. (GS X, 330)
    So Gurnemanz zu den Knappen über Kundry. Ihr wie Parakriti wird jedoch schließlich »Erlösung« durch »Entsagen« (SS XI, 324) zuteil.
    Entsagung ist im Sinne Schopenhauers das Erlöschen alles Begehrens, zumal des zwanghaften Eros, der den Brennpunkt des blinden »Willens« bildet. Während Kundry diese Erlösung im Tod fi ndet, den sie als Befreiung von einem nicht enden wollenden Dasein, vom verhängnisvollen Kreislauf der »Wiedergeburten«, mithin als »Auflösung, gänzliches Erlöschen« im Jenseits des Nirwana ersehnt (SS XI, 404), wird Parakriti »der vollen Erlösung durch Aufnahme unter Buddhas Gemeinde zugeführt«, die sich also – im Unterschied zur Gralsgemeinde – dem anderen Geschlecht ö ff net. Die Bedingung dafür ist das Gelübde der Keuschheit; nur durch sie ist die »Vereinigung mit Ananda« möglich. Und wie bereits zitiert: »Ananda begrüßt sie als Schwester« (SS XI, 325). Das geschieht symbolisch auch im Parsifal , wenn dessen Titelheld Kundry nach ihrer Taufe »sanft auf die Stirne« küsst (GS X, 372): der von allem Begehren befreite brüderliche Gegenkuss zum erotischen Kuss Kundrys im zweiten Aufzug. Entsagung ›siegt‹ über die Liebe als Leidenschaft: »stark ist der Zauber des Begehrenden, doch stärker der des Entsagenden« – so die Worte Parsifals zu Amfortas am Ende des Prosaentwurfs von 1865 (SS XI, 413).
    Von seinem Versuch einer Revision der Schopenhauerschen »Metaphysik der Geschlechtsliebe« in der Tristan -Zeit (SS XII, 291) scheint Wagner sich im Parsifal abgekehrt zu haben. Schon in den Meistersingern deutete sich das an. Hier bereits ist die a ffi rmative Liebesmetaphysik des Tristan -Schlusses zum Teil zurückgenommen. »Hans Sachs war klug, und wollte / nichts von Herrn Marke’s Glück. –« (GS VII, 254) Das Entsagungswissen steht über dem Liebeswissen. Erst recht gilt das für Parsifal . Der Liebe als Eros tritt hier im Sinne Schopenhauers die Liebe als Agape entgegen, »deren Ursprung und Wesen […] die Durchschauung des principii individuationis« ist. Wie der Eros Selbstsucht, so ist die Agape Mitleid; sie gründet in dem Wissen des Veda: »Tat twam asi! (Dieses bist du!)«. Wer diese Formel, schreibt Schopenhauer, »mit klarer Erkenntnis und fester inniger Überzeugung über jedes Wesen, mit dem er in Berührung kommt, zu sich selbst auszusprechen vermag, der ist« – durch Mitleid wissend geworden, darf man mit der Parsifal -Formel einfügen –, »der ist eben damit aller Tugend und Seligkeit gewiß und auf dem geraden Wege der Erlösung« ( Die Welt als Wille und Vorstellung IV, § 66). Die Erfahrung des ›Tat twam asi‹, die auch Wagner in Religion und Kunst ausführlich erläutert (GS X, 224 f., 264), macht Parsifal paradoxerweise beim Liebeskuss Kundrys. Dieser Kuss, das Erlebnis des eigensüchtigen Eros, macht ihn nach Kundrys Worten »Welt-hellsichtig« (GS X, 361), lässt ihn in blitzartiger Erkenntnis das ›principium individuationis‹ durchschauen und zu der metaphysischen Mitleidshaltung gelangen, die den Angelpunkt der auf die Lehre Buddhas rekurrierenden Schopenhauerschen Ethik bildet.
    In Religion und Kunst , drei Jahre nach der Parsifal -Dichtung entstanden, hat Wagner die Unterdrückung der Natur und die Verfolgung der Tiere als typisch für die westliche »Kriegszivilisation« (GS X, 239) beschrieben. In den sogenannten Regenerationsschriften aus seinen letzten Lebensjahren hat er sich einen Pazi fi smus zu eigen gemacht, der zum Militarismus der europäischen Großstaaten, zumal zu dem bis an die Zähne gerüsteten Deutschen Reich in denkbar größtem Gegensatz steht. Den militärischen Siegern stellt Wagner seine »Sieger« über den im Eros zentrierten Willen zum Leben und über den Willen zur Macht gegenüber, vor dem sie als Unterliegende erscheinen mögen. Nicht der handelnde, sondern der leidende Held – der Heilige – muss angesichts der auf eine apokalyptische Katastrophe zutreibenden Kriegszivilisation das Vorbild der Menschheit sein. »Erkennen wir, mit dem Erlöser im Herzen, daß nicht ihre Handlungen, sondern ihre Leiden die Menschen der Vergangenheit uns nahe bringen und unseres Gedenkens würdig machen, daß nur dem unterliegenden, nicht dem siegenden Helden unsere Theilnahme zugehört.« (GS X, 247) Das ist die Botschaft, die Wagner dem Gesetz der Geschichte entgegensetzt, welche

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