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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Grande (mit ganzen fünfzehn Zimmern). Freunde und Mitarbeiter wie Paul von Joukowsky, nun sein ständiger Hausgast, Levi, Liszt und viele andere mehr oder weniger Vertraute sind seine Gäste. Liszt arbeitet an seinen späten, an die Grenze der Tonalität vorstoßenden Klavierstücken, die nur noch das Befremden Wagners auslösen. »Am späten Abend, wie wir allein sind«, berichtet Cosima am 28. November im Tagebuch, »ergeht sich R. über die jüngsten Kompositionen meines Vaters, er muß sie durchaus sinnlos fi nden und drückt das eingehend und scharf aus. Ich bitte ihn, mit meinem Vater darüber zu sprechen, um ihn von den Irrwegen zurückzuführen; ich glaube aber nicht, daß R. dies tut.« (CT II, 1059)
    Er selbst trägt sich mit dem Gedanken einsätziger Symphonien, den er Liszt in einem Gespräch am 17. Dezember entwickelt: »Wenn wir Symphonien schreiben, Franz, nur keine Gegenüberstellungen von Themen, das hat Beeth. erschöpft, sondern einen melodischen Faden spinnen, bis er ausgesponnen ist; nur nichts vom Drama.« So gibt Cosima seine Idee wieder (CT II, 1073). Vom ›Drama‹ scheint Wagner nun genug zu haben. Ob dieser Symphonienplan mehr als ein bloßes Gedankenspiel ist, lässt sich nicht entscheiden. Erstaunlich freilich sein neues Interesse an der von ihm in seinen ›dogmatischen‹ Jahren totgesagten Symphonie. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch – zumal angesichts der Verleugnung seiner Jugendopern – die Wiederaufführung seiner lange verschollenen, ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Sinfonie in C-Dur im Teatro La Fenice mit dem Orchester des Lyceums, wiederum aus Anlass von Cosimas Geburtstag am 24. Dezember 1882. (Über sie schreibt er auch einen Bericht an den Herausgeber des Musikalischen Wochenblattes , in den Erinnerungen an seine Leipziger Jugendzeit einge fl ochten sind.)
    Wohl ernster als sein Symphonienplan ist Wagners Gedanke zu nehmen, noch einmal den Tannhäuser zu überarbeiten, in dessen vorliegender Gestalt ihm die Tristan -geprägte Musiksprache der Pariser Venusbergszene und diejenige der ursprünglichen Oper zu sehr auseinanderzukla ff en scheinen, jene zu stark auf dem übrigen lastet. »Er sagt, er sei der Welt noch den Tannhäuser schuldig«, berichtet Cosima am 23. Januar 1883 (CT II, 1089). Doch im Grunde ahnt Wagner: »Ich bin wie Othello, mein Tagwerk ist vorbei«, wie er zu Cosima genau eine Woche vor seinem Tod sagt (CT II, 1108).
    In seinem Aufsatz Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882 vom November des gleichen Jahres blickt er noch einmal auf diesen Höhepunkt seines Scha ff ens und Wirkens zurück, beschreibt das künstlerische Ziel der Aufführung: »Deutlichkeit« des sprachlichen, musikalischen und gestischen Ausdrucks (GS X, 299), »ideale Natürlichkeit« (GS X, 303) und allen Prunk wie E ff ekt vermeidende »weihevolle Einfachheit« (GS X, 304). Parsifal ist ihm ein Werk der »Flucht« (GS X, 307) vor dem gegenwärtigen Weltzustand, dem System der Lüge, des Imperialismus und Militarismus. Das »Bühnenweihfestspiel« wird zum Gegenbild des triumphierenden Deutschen Reichs, dem Wagner in seiner letzten Lebenszeit mit einer Mischung aus Verachtung und Abscheu gegenübersteht. »Wer kann ein Leben lang mit o ff enen Sinnen und freiem Herzen in diese Welt des durch Lug, Trug und Heuchelei organisirten und legalisirten Mordes und Raubes blicken, ohne zu Zeiten mit schaudervollem Ekel sich von ihr abwenden zu müssen? Wohin tri ff t dann sein Blick? Gar oft wohl in die Tiefe des Todes.« (GS X, 307 f.)
    Ständige Herzbeschwerden überschatten drohend die letzten venezianischen Monate Wagners. Dennoch begibt er sich immer wieder mit der Familie auf Spaziergänge in die geliebte Stadt, zumal auf den Markusplatz, und nimmt im Februar einmal auch bis in die Nacht am Faschingstreiben teil, was er durch schweres Unwohlsein am nächsten Tag büßen muss. Seine letzte Arbeit, zwei Tage vor seinem Tode begonnen, ist der Aufsatz Über das Weibliche im Menschlichen , der Fragment bleiben wird. Er soll den de fi nitiven »Abschluß« des mit mehreren Nachträgen versehenen Traktats Religion und Kunst bilden (SS XII, 343). Der Aufsatz ist erneut durch die Verquickung von Rassentheorie à la Gobineau und Evolutionslehre à la Darwin geprägt, die Wagners Programm einer Regeneration der Menschheit (im Gegensatz zu Gobineaus pessimistischer Degenerationslehre) konstituiert und auf die Einheit der menschlichen Gattung im Kontrast mit ihrer gegenwärtigen

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