Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
bisher immer vom »Rechte des Stärkeren« beherrscht blieb.
Auch Parsifal ist von der Friedensidee des späten Wagner nachhaltig geprägt. Nachdem Gurnemanz Parsifal seinen Frevel am Frieden der Natur vor Augen geführt hat, zerbricht dieser seinen Bogen und schleudert die Pfeile von sich. Als er mit dem wiedergewonnenen heiligen Speer das Reich Klingsors verlässt, muss er, den Speer hütend, »Wunden jeder Wehr’« erleiden: »Denn nicht ihn selber / durft’ ich führen im Streite« (GS X, 367 f.). Dieser Speer ist nicht mehr dazu da, Wunden zu schlagen, sondern zu schließen (eben die des Amfortas: »die Wunde schließt / der Speer nur, der sie schlug« (GS X, 375) – er ist ein Symbol des vom Mitleid geprägten Friedens. War es nicht schon der Anfang des Frevels, dass Amfortas ihn als Wa ff e gegen Klingsor benutzte?
Parsifal ist eine Dichtung des Friedens nicht nur des Menschen mit sich selber, sondern des Menschen mit der Natur. Und für diese aus dem Mitleid geborene Friedensidee beruft sich Wagner immer wieder auf die Lehre Buddhas von der »Einheit alles Lebenden« (GS X, 212) wie auf die in ihrem Lichte gedeutete Lehre Jesu. »Die beiden erhabensten Religionen, Brahmanismus mit dem aus ihm sich lösenden Buddhaismus und Christentum lehren Abwendung von der Welt und ihren Leidenschaften, womit sie dem Strome der Weltbewegung sich geradesweges entgegenstemmen, ohne in Wahrheit ihn aufhalten zu können.« (GS X, 223) Diese Gegenbewegung gegen die Weltbewegung ist für Wagner auch die Aufgabe der Kunst, wenngleich er sich nicht der Illusion hingibt, den Lauf der Welt ändern zu können.
Wagners Idee der »wahren Religion« (GS X, 212), des reinen – mit dem ethischen Kern des Buddhismus konvergierenden – Christentums ist also ganz getragen von der Idee eines im Mitleid gründenden, den Egoismus als Triebkraft des Willens zum Leben außer Kraft setzenden Friedens. Mit dieser Idee aber ist die Zielvorstellung einer Überwindung aller feindlichen Trennungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, zumal der Rassengegensätze unablösbar verbunden. Man könne sich allerdings nicht davor verschließen, »daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen besteht« (GS X, 275), heißt es in Wagners Aufsatz Heldenthum und Christenthum (1881) unter Berufung auf Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines . Und doch sei »beim Überblick aller Racen die Einheit der menschlichen Gattung unmöglich zu verkennen«; in dem diese Einheit konstituierenden Moment der »Fähigkeit zu bewußtem Leiden« sei »die Anlage zur höchsten moralischen Entwicklung« zu erfassen (GS X, 276 f.).
Dem von Gobineau verabsolutierten Rassenunterschied steht für Wagner also die durch das Christentum garantierte Einheit der Menschheit gegenüber, diese aber besteht im Leiden und Mitleiden – »das als göttliches Mitleiden durch die ganze menschliche Gattung, als Urquell derselben, sich ergießt« (GS X, 281). Der Buddhismus und das reine Christentum stehen für Wagner in einer gemeinsamen Opposition gegen alle feindlichen Trennungen des Menschen vom Menschen – ob sie Kasten oder Rassen heißen –, mit dem Ziel der Einheit des Menschengeschlechts. Das »Blut des Heilandes« sei »nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten Race« ge fl ossen; »vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte«. So Wagner in Heldenthum und Christenthum (GS X, 282 f.). Im Geiste Buddhas wie Jesu soll sich die Verwandlung der Menschheit von einem »natürlichen«, durch den Antagonismus der Rassen bestimmten Zustand zu einem »moralischen« vollziehen, der die allgemeine Übereinstimmung der menschlichen Gattung verwirklicht (GS X, 284 f.). Das ist das Ziel von Wagners buddhistisch grundiertem Christentum, das sich von der späteren Bayreuther Ideologie in einem Maße entfernt, das kaum verstehen lässt, wie sich dessen Repräsentanten auf ihn berufen konnten.
Tod in Venedig
Am 14. September 1882 verlässt Wagner nach erneuten bedrohlichen Herzattacken mit seiner Familie Bayreuth, um den Winter in Venedig zu verbringen, eine Fehlentscheidung mit schlimmen Folgen, denn der nasskalte venezianische Winter war Wagners Herzen, dessen tödliche Erkrankung seine Ärzte nicht erkannten, kaum weniger zuträglich als das Bayreuther Klima. Sein vierter Venedig-Aufenthalt sollte sein letzter sein. Vier Tage nach der Ankunft bezieht er mit den Seinen den Mittelstock des Palazzo Vendramin-Calergi am nördlichen Canal
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