Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
Vom Netzwerk:
also ganz undenkbar gewesen. Das ist Wagner im Laufe seines Paris-Aufenthaltes klar geworden. In seinen Erinnerungen an Auber (1871) hat er am Beispiel der Wirkungsgeschichte der Stummen von Portici den Wandel des Zeitgeistes tre ff end charakterisiert: »Die Pariser Juli-Revolution nahm sich in den Augen der Völker ganz so sympathisch aufregend aus, als die Stumme von Portici zuvor in den Theatern dieß getan hatte; gerade auch denselben Schrecken verbreiteten Beide unter den Anhängern der verschiedenen Legitimitäten. Diese Oper, deren Aufführungen selbst Emeuten zum Ausbruche brachten, ward als der o ff enbare theatralische Vorläufer der Juli-Revolution erkannt«, ja wurde wie diese als »Exzeß des Pariser Volksgeistes […] von den französischen Politikern, ja, genau genommen, von der ganzen Bevölkerung betrachtet. Als ich am Ende der dreißiger Jahre nach Paris kam, dachte man nicht mehr an die Juli-Revolution, ja die Erinnerung an sie degoutirte« (GS IX, 58).
    Wie stellt sich vor diesem Hintergrund Wagners Entwurf der Hohen Braut dar? Wie erwähnt, spielt die Handlung im Jahre 1793, dem ›traumatischen‹ Jahr der Revolutionsgeschichte, unmittelbar vor der Einnahme Nizzas durch die französische Revolutionsarmee. Männliche Hauptperson der Handlung ist Giuseppe, der Sohn des Schulzen auf dem in der Nähe von Nizza gelegenen Gut des Marchese Malvi, des Repräsentanten der alten savoyardischen Herrschaft. Giuseppe liebt Malvis Tochter Bianca, für die der Vater aber einen standesgemäßen Bräutigam, den Grafen Rivoli, bestimmt hat, obwohl sie den Schulzensohn, ihren Milchbruder, gleichfalls liebt. Dieser an das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts gemahnende Kon fl ikt ist verschränkt mit der prekären politischen Situation Nizzas.
    Der Schlussakt spielt vor der Kathedrale zu Nizza, in der die Trauung Rivolis und Biancas statt fi ndet. Die Zeremonie endet mit beider Tod: Rivoli wird von dem Revolutionär Sormano ermordet, Bianca, die vor der Trauung Gift genommen hat, stirbt in Giuseppes Armen. »In demselben Moment«, so lesen wir in Wagners Entwurf, »hört man von der Citadelle einen Kanonenschuß, – es verbreitet sich schnell der Ruf: ›Die Franzosen! Die Franzosen!‹ – Die französische Armee zieht unter Feldmusik, unter dem Gesang der Marseillaise und mit geschwenkten Fahnen ein, in der Ferne sieht man auf Saorgio die dreifarbige Fahne wehen. – Tableaux.«
    Die Handlung endet mit der privaten Tragödie der Revolutionäre, aber die Revolution erlebt – über die Leichen ihrer Protagonisten hinweg – ihren großen Triumph, wie er sich im Gesang der Marseillaise bezwingend manifestiert. Die sensible Balance zwischen revolutionärem Inhalt und revolutionspessimistischer Tendenz, wie sie zumal Meyerbeers reife Werke prägt, suchen wir in Wagners Entwurf vergeblich. Die Tragödie des Rebellen bedeutet hier durchaus nicht wie in den maßgebenden Werken der Grand Opéra das Scheitern der von ihm repräsentierten (revolutionären) Sache, sondern diese siegt im schneidenden Kontrast zum privaten Schicksal ihres Helden.
    Kittls Oper hat die dezidiert revolutionäre Tendenz des Wagnerschen Prosaentwurfs geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Das hat Wagner gründlich missfallen. In einem Brief an den Komponistenfreund vom 4. Januar 1848 (!) schreibt er: »Vor allem peinigt mich etwas die Aenderung des Schlusses. […] Ich hatte auf das heftig Ergreifende, Sturmschnelle des Schlusses sehr gerechnet: […] das einzige furchtbar Erhebende ist das Daherschreiten eines großen Weltgeschickes, hier personi fi zirt in der französischen Revolutions-Armee, welches in fürchterlicher Glorie über die zertrümmerten alten Verhältnisse (der Familien) dahinzieht. Diese Beziehung darf nach meiner Ansicht in nichts geschwächt werden, wenn der Schluß, wie ich es mir dachte, der erhebendste Moment des Ganzen sein soll; wird er so festgehalten, wie ich mir dachte, so liegt die große Versöhnung im Erscheinen der Franzosen darin , daß wir hier mit o ff enen Augen ersichtlich eine neue Weltordnung eintreten sehen, deren Geburtswehen jene Schmerzen waren, die bis dahin die Bewegung des Dramas bildeten.« (SB II, 586 f.)
    Die von Wagner in seinem Brief über die Hohe Braut angeschlagenen Töne – die vom Pathos des Revolutionsjahrs 1848 geprägt sind –, scheinen den ängstlich auf die Zensur schauenden Kittl nur verschreckt zu haben. Vor allem musste es ihn verstören, dass Wagner auf der Marseillaise am

Weitere Kostenlose Bücher