Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit
Wotans große Idee, den Untergang Walhalls durch einen Helden abzuwenden, welcher frei vom »Göttergesetz« (GS VI, 32) den über Hort und Ring liegenden Drachen erschlägt – was Wotan selbst als dem Herrn der Verträge eben verwehrt ist –, führt jenen Untergang gerade herbei. Die hier waltende tragische Dialektik korrespondiert genau der in Oper und Drama skizzierten, am Mythos von Ödipus und seinen Kindern veranschaulichten Dialektik des Staats: »Seit dem Bestehen des politischen Staates geschieht kein Schritt in der Geschichte, der, möge er selbst mit noch so entschiedener Absicht auf seine Befestigung gerichtet sein, nicht zu seinem Untergange hinleite.« (GS IV, 65) Die Notwendigkeit der »Vernichtung des Staates« (GS IV, 67 u. ö.) aber resultiert aus seinem Ursprung in der Sicherung des Machtbesitzes.
Siegfried und Brünnhilde verkörpern inmitten einer korrumpierten Welt noch die Integrität des mythischen Urzustandes, in dem Natur und Liebe alles, Macht und Besitz noch nichts sind. Das ist auch der Grund, warum Siegfried »das Fürchten nicht gelernt« hat (GS VI, 108). Der Ring als Machtgarantie ist ihm gleichgültig. »Der Welt Erbe / gewann mir ein Ring: / für der Minne Gunst / miss’ ich ihn gern«, sagt er leichthin zu den Rheintöchtern (GS VI, 238). Die Siegfried-Tragödie demonstriert freilich, dass der furchtlose Held, dem Macht und Besitz fremd sind, in der »list’gen Welt« zum Scheitern verurteilt ist. »Wem die Furcht die Sinne / nicht scharf gefegt, / blind und taub in der Welt / schlingt ihn die Welle hinab«, schärft Mime seinem Zögling in der nicht vertonten Urfassung der Eingangsszene des Siegfried ein (SS XVI, 204). Seine Furchtlosigkeit macht ihn zum Opfer tödlicher Intrige. Diese setzt ihn gar jener magischen Gehirnwäsche aus, durch welche ihm bis zum Moment seines Todes ein Stück seiner Identität – die für seine mythische Integrität so wesentliche Liebe zu Brünnhilde – verlorengeht, so wie Brünnhildes Liebe sich in einen mörderischen Hass verkehrt, der sie – bis zu ihrer Aufklärung durch die Rheintöchter in der Unheilsnacht – ihrem Wesen nicht weniger entfremdet.
Den Rheintöchtern erst verdankt Brünnhilde ihr ganzes Wissen von dem tödlichen Intrigennetz, in das Siegfried und sie geraten sind, sowie den Rat, den Ring dem Rhein zurückzugeben und so die Welt von ihrem Fluch zu erlösen. Die Rheintöchter haben als Elementarwesen, als Verkörperungen der nicht korrumpierbaren Natur ein tieferes Wissen als die wissentlich oder unwissentlich in eine korrupte Welt verstrickten Götter und Helden – und bezeichnenderweise können sie dieses Wissen nur der Tochter Erdas, der naturverwandten Brünnhilde vermitteln. Erda ist ja – der Gaia des griechischen Mythos entsprechend – die Urmutter, welche die Ordnung der Natur hütet. (Bezeichnenderweise ist das ihr zugeordnete Motiv das nach cis-Moll versetzte erste Leitmotiv des Ring , das Motiv der Natur und des Werdens.)
Erst das mit der Götterdämmerung und der Rückgabe des verhängnisvollen Rings an die Rheintöchter besiegelte Ende des bestehenden Weltzustandes lässt den freien, von allem Verhängnis gelösten Menschen und das von ihm bestimmte Liebesideal am musikalisch-dramatischen Horizont aufscheinen. In ihrem Tod erheben Siegfried und Brünnhilde sich über alle Entfremdung, kehren sie zu ihrer mythischen Integrität zurück und setzen so das Zeichen der Ho ff nung auf eine bessere Welt, wie sie im Instrumentalmotiv des Schlusses erklingt. Das Feuer, das Brünnhilde entfacht, »rein’ge den Ring vom Fluch«, so ihr Imperativ (GS VI, 253). Mit dem Ende der aus einer Naturverletzung hevorgegangenen Ordnung Wotans und der Rückgabe des Rings an die Naturelemente wird die Welt in ihren paradiesischen Urzustand zurückgeführt; indem sie endet, beginnt sie neu.
Der Weltbrand, mit dem die Tetralogie schließt, weist nicht nur auf die Ragnarök der germanischen Mythologie, sondern auch auf den in der antiken Welt weit verbreiteten Mythos eines eschatologischen Reinigungsfeuers zurück. Immer liegt dem Mythos vom Weltbrand zugrunde, dass sich die Welt durch die Kraft des Feuers erneuert. Gleich der Sint fl ut – so Jacob Grimm in der Deutschen Mythologie – solle »auch der weltbrand nicht für immer zerstören, sondern reinigen [!] und eine neue bessere weltordnung nach sich ziehen«. In diesem Sinne redet Wagner in seinem Gespräch mit Cosima am 25. November 1873 selber von der »Konzeption der
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