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Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit

Titel: Richard Wagner - Werk, Leben, Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Borchmeyer
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Zürich

»Nacht-geweihte« – Tristan und Isolde
    Tristan und Isolde ist das bedeutendste Erzeugnis des Züricher »Asyls« – das einzige musikalische Drama Wagners, das er noch nicht während jenes Marienbader Sommers 1845 konzipiert hat, in dem er ansonsten sein gesamtes zukünftiges dramatisches Werk vorgezeichnet hat. Die früheste Idee zum Tristan fasst Wagner erst im Spätjahr 1854 – nach der ersten Lektüre und unter dem Eindruck von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung. Die früheste musikalische Skizze fällt ins Jahr 1856. Nach dem Abbruch der Komposition des Siegfried schreibt Wagner im August 1857 den großen Prosaentwurf, im September die Urfassung der Dichtung nieder und beginnt anschließend mit der Kompositionsskizze des ersten Akts. Anfang August 1859 ist die Partitur abgeschlossen, doch wird es noch sechs Jahre dauern, bis das Werk am 10. Juni 1865 im Münchner Hof- und Nationaltheater seine Uraufführung erlebt. Vier Jahre zuvor hat Wagner Tristan bereits in Wien einzustudieren begonnen, doch das Projekt wurde nach über 70 Proben abgebrochen.
    Die Unterbrechung der Arbeit am Ring bedeutete für Wagner in gewisser Weise eine ästhetische Befreiung; einerseits konnte er sich im Tristan aus dem strengen, ihn permanent bindenden dichterischen Motivationszusammenhang und semantischen Beziehungsge fl echt des Ring herauslösen und »ein Mal sich ganz symphonisch gehen […] lassen« (CT II, 256), anderseits das in Oper und Drama aufgestellte Ideal eines musikalischen Dramas von der »verdichteten Gestalt« (GS IV, 84) der griechischen Tragödie konsequent realisieren. »An dieses Werk nun erlaube ich die strengsten, aus meinen theoretischen Behauptungen fl ießenden Anforderungen zu stellen«, schreibt Wagner denn auch in seinem Aufsatz »Zukunftsmusik« (1860; GS VII, 119). Tatsächlich kommt der geschlossene Aufbau der Handlung des Tristan der in Oper und Drama als formaler Gegenpol zur o ff enen szenischen Struktur des Shakespeareschen Dramas beschriebenen Tragödie der französischen Klassik – und ihrem musikalischen Pendant: der Reformoper Glucks – dramaturgisch sehr nahe. Die Handlung beschränkt sich auf wenige Personen: von episodischen Figuren abgesehen auf Tristan, Marke, Isolde und ihre für die Struktur der tragédie classique typischen ›Vertrauten‹: Kurwenal, Melot und Brangäne.
    Tristan besteht aus drei streng gebauten Akten, der Sto ff des mittelalterlichen Epos ist – wie später im Parsifal – zu drei Hauptsituationen zusammengedrängt. Diese ›Klassizität‹ aber konnte sich Wagner nur erlauben, ohne Gefahr zu laufen, dass er das ›Leben‹ in seiner Bedeutungsfülle vom Horizont des Dramas ausschloss, da er die eliminierten Sto ff elemente der mittelalterlichen Vorlage gewissermaßen der Musik und dem Orchester als ›allwissendem Erzähler‹ übergab, der den ›Roman‹ erzählt, den das reine Drama auf drei plastische Situationen reduziert. Das zeigt sich zumal am zentralen Motiv des Liebestranks. Dieser ist die Chi ff re eines metaphysischen Erkenntnisprozesses im Sinne Schopenhauers und zugleich die Abbreviatur eines komplexen psychologischen Vorgangs; ihn vermag das Relief der Bühnenhandlung nur anzudeuten, seine di ff erenzierte Motivierung und ›epische‹ Entfaltung bleibt der Musik vorbehalten.
    In Wagners Tristan ist es – anders als im mittelalterlichen Epos – nicht der Liebestrank als solcher, der die Liebe Tristans und Isoldes erweckt, sondern der vermeintliche Todestrank, das Gift, das Brangäne Isolde aus der Apotheke ihrer Mutter reichen sollte, das diese aber heimlich gegen den Liebestrank vertauscht hat. Der Todestrank allein ermöglicht das rückhaltlose Bekenntnis zur Liebe, bringt die verschwiegene und verdrängte Leidenschaft Tristans und Isoldes ans Licht. Der Trank »habe entdeckt, was o ff enbar werden mußte«, sagt Isolde zu Brangäne in Wagners Prosaentwurf zum Tristan (SS XI, 334).
    Weil beide glauben, den Tod zu trinken, schwindet zwischen ihnen die Scheidewand illusionärer Wertvorstellungen und trotziger Selbstbewahrung, die nichts sind als trügender Traum, eitler Zauber.
    T R I S T A N . Was träumte mir
von Tristan’s Ehre?
I S O L D E . Was träumte mir
von Isoldes Schmach?
T R I S T A N . Du mir verloren?
I S O L D E . Du mich verstoßen?
T R I S T A N . Trügenden Zaubers
Tückische List!
I S O L D E . Thörigen Zürnens
eitles Dräu’n! (GS VII, 27 f.)
    In der wichtigsten philosophischen Quelle des Tristan ,

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