Richter
darf der Staat mich nicht verknasten, denn ich bin verrückt, ich bin verrückt, und heute will ich reden ...
Er seufzte, als er spürte, wie sein Ohrwurm sich allmählich auflöste und ihn freigab.
»Soll ich umschalten?«, fragte er.
»Nein, lassen Sie nur, ich hör sonst zwar eher was anderes, aber es ist in Ordnung. Darf ich?«
Sie nahm die Tageszeitung, die Ferro auf den Beifahrersitz gelegt hatte, ließ sie aber gleich wieder fallen, denn darunter verbarg sich eine Pistole.
»Oh, Dio ...«
»Entschuldigung. Ich leg sie dahin, ich trage sie sonst am Rücken, und wenn ich fahre ...«
»Ich denke, die können Sie hinten behalten. Bei mir werden Sie kaum Gelegenheit bekommen, sie einzusetzen.«
»Dottoressa, man kann nie wissen ...«
»Wie, man kann nie wissen?«
Sie lachte, und auch Ferro lächelte. Die Bambina berührte den metallenen Türpfosten des Ritmo, und er fasste sich, ebenfalls zur abergläubischen Gefahrenabwehr, rasch zwischen die Beine, als sie nicht hinsah.
»Personenschutz brauchen doch nur diejenigen, die im politischen Raum ermitteln, wie der arme Amato, den sie einfach so an der Straßenbahnhaltestelle umgebracht haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich weiter mit dem Moped ins Gericht kommen. Wissen Sie, was für eine Sache heute bei mir anliegt?«
Sie nahm die Zeitung und deckte dabei die Pistole auf, schien jetzt aber keine Angst mehr davor zu haben. Sie schlug sie auf und blätterte sie durch.
»Da, es steht nicht mal drin.«
Sie schlug die Zeitung wieder zu und betrachtete das Foto von dem Flugzeug auf der Titelseite. Darunter war das fürchterliche, körnige Bild von den Toten, die vorUstica im Meer trieben, weiße Flecken im schwarzen Wasser, den Bauch nach oben gekehrt, wie tote Fische.
»Na ja«, sagte sie halblaut, »es gibt ja auch Schlimmeres als meinen betrügerischen Konkurs.«
Sie waren beim Gericht angelangt. Ferro stieg aus und ging um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen, aber die Bambina war schon ausgestiegen.
»Bis heute Abend!«, sagte sie und winkte ihm mit einer Hand zum Abschied, während er ihr hinterhersah, so blond und schmal war sie, Jeansjacke und Aktentasche über einer Schulter, und er dachte, wenn die Pistole unter der Zeitung nicht wäre und die wachhabenden Carabinieri vorm Gerichtsgebäude, dann würde er sich wirklich vorkommen wie der Chauffeur, der die Tochter des Chefs zur Uni bringt.
Als er sie allerdings am Abend wieder abholte, wirkte sie ganz verändert. Immer noch niedlich, immer noch die Bambina, doch als sie in der Tür des Gerichtsgebäudes stehen blieb, den Blick gedankenverloren ins Leere gerichtet, konnte man ihr kurz jedes einzelne der dreißig Jahre ansehen, die sie seit heute zählte.
Sie ließ Ferro mit der Hand an der Hintertür stehen und setzte sich nach vorn, auf den Beifahrersitz, streifte sich die Ballerinas von den Füßen und legte diese aufs Armaturenbrett, mit angezogenen Knien.
Sie sagte: »Darf ich?«, was Ferro erst auf die Füße bezog, dann sah er die Kassette in ihrer Hand und nickte. Sie schob sie in den Kassettenschacht des Autoradios, drückte auf Schnellvorlauf, bis sie den gesuchten Song gefunden hatte. Dann drehte sie den Ton hoch und lehnteden Kopf mit geschlossenen Augen an die Rückenlehne.
Der Lautsprecher in dem alten Ritmo war nicht so besonders, er vibrierte bei den Bässen, die pulsierten wie ein altersschwaches Herz, während das Schlagzeug eine einzige hämmernde Tonspur war, als würde man mit den Lippen ploppen. Fern, fast wie ein Echo, hörte man Gesang. Die Bambina drehte noch lauter.
I hear her voice, calling my name, the sound is deep, in the dark.
»Gefällt Ihnen die Musik?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Ein bisschen düster für meinen Geschmack ... Das wäre was für meinen Sohn.«
»Nur den einen Song, dann nehme ich die Kassette raus. Mich entspannt das.«
»Schlimmen Tag gehabt?«
»Weiß nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Mögen Sie Ihre Arbeit?«
»Ja. Familientradition, mein Vater war bei der Polizei, mein Großvater auch schon ... noch ein paar Jahre, dann gehe ich in Pension.«
»Ich auch, also ich meine Familientradition, nicht Pension. Mein Vater war auch schon Richter, aber ich bin es nicht ihm zu Gefallen geworden. Aber heute Abend weiß ich nicht, ob ich den Job lieben oder hassen soll. Egal, darüber denke ich morgen weiter nach, heute hab ich Geburtstag.«
Suddenly I stop, but I know it’s too late, I’m lost in a forest, all
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