Richter
meinte die Papiere in dem Schrank.«
»Diese Akten befanden sich nicht mehr in dem Schrank«, sagte Surra.
Alle, die um den langen Tisch herum saßen, zuckten gleichzeitig zusammen, und so machte auch der Tisch selbst einen Satz.
»Nicht ... mehr ... darin?«, fragte verwundert der Journalist.
»Genau. Ich hatte sie herausgenommen und woanders untergebracht.«
Er blickte die Anwesenden an und die Anwesenden ihn. In seinen Augen sahen sie nichts als die Reinheit eines beschneiten Alpengipfels.
»Und dann habe ich versäumt, von der Verlegung zu berichten.«
Es war nicht nötig, die Ankunft der Zeitung aus Palermo am nächsten Morgen abzuwarten, denn in Montelusa verbreitete die Nachricht sich noch am selben Nachmittag.
Und ganz eigenartigerweise schien das Städtchen hier und da von Heiterkeitsblitzen durchzuckt zu werden. Allüberall wurde gelacht, in den Häusern, auf der Straße, in den Cafés. Ein Zwinkern und Lachen, auch unter Menschen, die einander gar nicht kannten.
»Mit welcher Feinheit, mit welcher List er Don Nené in eine tödliche Falle gelockt hat!«, staunte Don Agatino Smecca, Tränen in den Augen vor lauter Lachen. Zu Ehren des Anlasses sprach er sogar Italienisch, nicht Sizilianisch. »Das war ein teuflisch gut eingefädelter Zug! Erst zeigt er die Ordner den vier Richtern und sagt ihnen, er werde sie im grünen Schrank verstauen, dann ruft er die Gerichtsdiener und lässt sie es tun, aber als alle gegangen sind und er allein ist, holt er sie aus dem Schrank und versteckt sie woanders. Und so haben Don Nenés Leute einen leeren Schrank verbrannt!«
»Verzeiht«, schaltete sich Professore Sciacca ein, »warum nennt Ihr das eine tödliche Falle?«
»Es dürfte offensichtlich sein, dass Don Nené nun tot und begraben ist, und zwar von der Lächerlichkeit. Von diesem Schlag wird er sich nicht erholen. Der Richter hat ihn schachmatt gesetzt. Lonero hat jedes Ansehen eingebüßt. Und den letzten Rest verliert er, wenn die vier Ermittlungsrichter die Arbeit mit diesen Ordnern wiederaufnehmen. Ihr werdet sehen, wie viele Belastungszeugen jetzt, gestärkt durch die Anwesenheit von Richter Surra, den Mut zur Aussage finden. Um wie viel wettet Ihr, dass diese Prozesse einmal nicht wegen Mangels an Beweisen eingestellt werden, wie es bei uns allzu oft der Fall ist?«
Don Agatino Smecca hatte leicht prophezeien. Zwei Wochen darauf gab Don Nené Lonero zu wissen, schwerwiegende familiäre Gründe zwängen ihn, nach Palermo zu ziehen, möglicherweise auf Dauer. Zu seinem Nachfolger, so munkelte man, wurde Don Sabatino Vullo ernannt, ein Mann fortgeschrittenen Alters, gesetzt und weit erfahren.
»Dass mir ja keiner irgendwelche Gefälligkeiten vom Gericht erbittet, solange dieser Richter Surra da ist!«, so lautete seine erste Anweisung an seine Leute.
Dieser Richter Surra stand drei Jahre lang dem Gericht von Montelusa vor und machte es zu einem Musterbeispiel an Effizienz, Korrektheit und Unparteilichkeit. Seine einzige Zerstreuung bestand darin, ab und zu allein auf die Jagd zu gehen. Attanasio hatte einen guten Hund für ihn gefunden.
Dann wurde er nach Turin zurückgerufen. Seine Fraufand ihn ein wenig dick geworden und setzte ihn auf Diät.
Doch unter den Montelusani hielt sich die Erinnerung an ihn jahrelang, ja jahrzehntelang. Und als das Gericht dann leider nicht mehr ganz so effizient, korrekt, unparteilich und transparent war, wie er es gewollt und verwirklicht hatte, vermisste ihn so mancher mit einem Seufzen: »Ah, zur Zeit von Richter Surra ...«
Ich vergaß: Der Richter kam nie dazu, den Bericht von Don Pietro Ulloa zu lesen, den der alte Presidente Fallarino ihm geschenkt hatte. Und als er nach Turin zurückging, ließ er ihn sogar in Montelusa liegen.
Anmerkung
Ich gebe hier eine Passage aus Don Pietro Ulloas Bericht wieder, die, hätte Richter Surra sie gelesen, ihm gewiss sehr interessant erschienen wäre.
»Es gibt keinen einzigen öffentlichen Angestellten in Sizilien, der sich nicht schon einmal dem Wink eines Mächtigen gefügt hätte oder nicht in Versuchung geraten wäre, aus seinem Amt Vorteil zu ziehen. Diese allgemein verbreitete Korruption hat die Bevölkerung zu allerlei ausgesprochen abwegigen und gefährlichen Mitteln der Abhilfe greifen lassen. Vielerorts gibt es Fratellanze, Bruderschaften, die ohne formelle Versammlungen auskommen und ohne andere innere Verbindung als die Abhängigkeit von einem Oberhaupt, der hier ein begüterter Besitzer, dort ein
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