Rico, Oskar und der Diebstahlstein
Oskars Bommelmütze lieà sie kurz stutzen. Ich atmete auf. Sie erkannte uns nicht.
Oskar lugte mich über seinen Vollkornbrotrand an und bewegte fragend den Mund: Jetzt?
Ja, jetzt.
Jetzt würde ich sie ansprechen.
Aber nun, wo es so weit war, wurde mir schummerig. Was war, wenn ihr Vater Recht behielt und Julia den Kalbstein wirklich nicht rausrückte? Ich wusste genau, wie sauer ich dann werden würde, und dabei sprang garantiert die Bingotrommel an, und am Schluss würde ich auch noch anfangen zu heulen, wegen der Ungerechtigkeit von allem. Ich würde Julia anbrüllen, und das Muskelpaket würde mir eine kleben, und Oskar und Porsche müssten mir beistehen, aber das würde so ein Muskelpaket sich nicht bieten lassen, sondern nur drei Mal kurz zuhauen, und ruck, zuck lägen wir alle drei tot auf einer halben Insel an dieser Ostsee rum, von der ich noch keinen Tropfen Wasser und kein Körnchen Sand gesehen hatte, und das hübsche Nutella-Döschen hatte ich auch noch nicht aufgemacht, das hatte ich mir ganz für den Schluss aufheben wollen. Mann, Mann, Mann!
Oskar verpasste mir unter dem Tisch einen auffordernden kleinen Tritt gegen das Schienbein, während er über dem Tisch abwechselnd in sein Käsebrot biss und eine geschälte Weintraube hinterherschob.
Also gut.
Jetzt.
Ich wollte gerade aufstehen, als Julias Handy klingelte. Sie griff danach wie eine Ertrinkende nach einem Rettungsring.
»Ja, hallo?«
Sie lauschte und drehte sich zur Seite. Es war einer dieser seltenen Momente, wo ich froh war, dass manche Erwachsene alle Kinder grundsätzlich für tiefbegabt halten. Sie quatschen einfach drauflos, in der Annahme, dass wir sowieso nicht hinhören, weil wir dauernd nur an unsere Karriere als Popstar, an Computerspiele oder an Pommes rot-weià denken.
»Natürlich hab ich ihn dabei«, hörte ich Julia mit gedämpfter Stimme sagen. »Hundert Prozent sicher bin ich allerdings nicht. Ich hab den Stein nur einmal gesehen und irgendwann später diese Zeichnung ⦠Nein, ich hab dir doch erklärt, wie schwierig das war! In dem Haus wohnen noch ein paar mehr Leute, da parkt man nicht nachts einen Transporter vor der Haustür und lädt mal kurz eine komplette Wohnung â was?«
Sie wandte sich dem Muskelpaket zu und tippte ungeduldig mit zwei Fingern gegen ihren Mund. Ihr Freund zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. Julia zog nur kurz daran, dann stieà sie wütend Rauch aus.
»Morgen? Gehtâs noch? Du wolltest heute hier sein, jetzt!  â Interessiert mich nicht, wie dein Wochenende war, dann sauf eben weniger! ⦠Ja ⦠Ja, dann morgen, um eins. Aber danach sind wir weg, also halt dich gefälligst dran!«
Sie lauschte weiter ins Handy. Plötzlich setzte sie sich sehr gerade hin. »Wie bitte? Sag mal, du hast wohl â¦Â« Sie seufzte. »Also gut. Ich werde es ihm schonend beibringen. Und es bleibt bei der Abmachung? Logisch, nur wenn der Stein in Ordnung ist, aber ⦠Ja, bis dann.«
Sie klappte das Handy zu. »Er kommt erst morgen Mittag«, sagte sie zu ihrem Freund. »Dreizehn Uhr. Geht nicht früher. Ist gestern versumpft. So ein Penner!«
Das Muskelpaket nickte nur. »Dann eben heute Strand. Kann ich mit leben.«
Ich hörte, wie der weiÃe Korbstuhl leise knackte, als Julia sich darin zurücklehnte. »Trotzdem, der Kerl geht mir auf die Nerven.«
»Dein Exfreund, nicht meiner.«
»Ja. Und der Einzige, bei dem ich den Stein loswerden kann. Wenn ich jemand anderen kennen würde, der so was macht â¦Â« Sie schwieg eine Weile, als müsste sie erst überlegen, wie sie den nächsten Satz formulieren sollte. »Er ⦠ehm ⦠also, er will, dass wir uns da treffen, wo er und ich früher immer waren.«
»Und das ist wo?«
»Am Strand.« Sie holte tief Luft. »FKK.«
Das Muskelpaket lief in Sekundenbruchteilen knallrot an.
»Was ist FKK?«, flüsterte ich Oskar zu.
»Die Abkürzung für Freikörperkultur«, flüsterte er zurück. »Sie meint einen Nacktbadestrand.«
KULTUR
: Alles, was Menschen erschaffen, um es auf der Welt hübsch zu haben oder weil sie ausdrücken wollen, wie sie sich dann in ihrer Hübschigkeit so fühlen, zum Beispiel sinnlos traurig, aber auch lachhaft sinnvoll. Sie erschaffen dann Statuen, malen Bilder oder machen Fotografien
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