Rico, Oskar und der Diebstahlstein
heimtückisch Blut aus einem raussaugten. Porsche verfolgte jeden dieser kleinen Brummer mit misstrauischen Blicken. Ich hoffte, dass er mir im Ernstfall das Leben retten würde. Für alles Geld der Welt würde ich nie in ein so allein stehendes Haus mitten in der Wildnis ziehen.
»Wie lange sollen wir warten?«, sagte ich irgendwann.
»Gar nicht mehr«, entschied Oskar. »Wenn sie gehen, nehmen sie den Stein bestimmt mit. Ich würde ihn in dieser Einöde jedenfalls nicht allein im Haus herumliegen lassen.«
»Toll. Und wann sollen wir dann an ihn rankommen?«
»Weià ich noch nicht«, sagte Oskar, den Blick immer noch auf die Haustür gerichtet. Ein kurzer Windzug lieà die darin eingebaute Klappe sachte ein und aus schwingen. »Aber ich überleg mir was.«
Und damit, endlich, die Ostsee. Noch nie habe ich so etwas Tolles gesehen. Oskar und Porsche und ich latschten zurück durch die Wildnis, über die grasigen Feldwege, die gepflasterten Gassen, die asphaltierten StraÃen, durch Prerow hindurch, bis wir, den Hinweisschildern folgend, an einem Deich ankamen. Der war dort aufgeschüttet worden, erklärte Oskar, damit bei einer Flut der Ort nicht absäuft. Man konnte prima auf dem Damm spazieren gehen oder Rad fahren, aber wir spazierten ihn auf der anderen Seite wieder runter, auf eine schmale Holzbrücke zu, die über einen groÃen, mit Schilf bewachsenen Teich führte. Diese Brücke endete vor einem schmalen, von hohen Bäumen gesäumten Pfad. Brauner Sand, graue Steinplatten, massenweise Laub und Nadeln â alles düster. Doch weiter hinten sah man den Weg schon heller werden und ein letztes Mal ansteigen, und zuerst dachte ich, toll, jetzt kommt der nächste Deich und dann wahrscheinlich noch fünf oder zehn, weil es so was wie Springfluten gibt, die vermutlich hinterhältig da drüberzuhüpfen versuchen! Aber die Bäume wurden tatsächlich weniger, aus dunklem Waldboden wurde heller Sandboden, und die Anhöhe entpuppte sich als eine Düne voller zitternder Gräser und knorriger kleiner Kiefern, die aussahen, als wären sie schon ihr Leben lang vor Wind und Sturm auf der Flucht, und als wir oben auf der Düne ankamen â¦
Wahrscheinlich machte ich Ohhh! Wahrscheinlich auch öfters als nur ein oder zwei Mal, so überwältigte mich der Anblick. Die See lag vor uns â unter uns â wie ein bis in alle Ewigkeit ausgebreitetes graublaues Tuch. Darüber spannte sich noch ein Tuch, der unendlich hohe, blassblaue Himmel. Am dunstigen Horizont verwoben sich die beiden Tücher ineinander, und genau an dieser Stelle tuckerten, nur noch als winzige Pünktchen sichtbar, zwei Schiffe oder Dampfer herum. Die fuhren in die groÃe, weite Welt.
»Ich setz mich mal«, sagte ich zu Oskar.
Porsche hockte sich neben mich. Ich löste ihn von der Leine, legte einen Arm um ihn und kraulte ihn unterm Kinn, während ich mir alles anschaute. Unterhalb der Düne war alles voller Urlauber. Sie saÃen und lagen überall im Sand, Erwachsene und Kinder, auf Handtüchern und in Strandburgen und hinter fröhlich bunten Windschutzen, paddelten im Wasser herum oder liefen daran entlang oder brutzelten einfach in der Sonne. Farbenfrohe Lenkdrachen knatterten durch die Luft, in einer frischen Brise, die mir den Geruch der Ostsee direkt in die Nase trug. Ich weià nicht, ob man Salzwasser riechen kann, aber irgendwas roch, und es roch gut. Möwen staksten durch den Sand, in kleinen Grüppchen, und wenn ein Kind auf sie zurannte, stoben sie auf und flatterten rauf in den Himmel, wo sie nach nur wenigen Flügelschlägen wie kleine Gleitflugzeuge davonsegelten.
DrauÃen zerschnitten Windsegler mit ihren Surfbrettern das Wasser. Zur einen Seite hin â mehr so links, schätze ich â sah man, wie die Küste einen sanften Bogen beschrieb, nach innen gebogen wie eine Mondsichel, um dann, gar nicht mal so weit entfernt, in einer Spitze auszulaufen. Zur anderen Seite â mehr so rechts â ging die See einfach nur weiter und weiter. In der Ferne konnte man einen langen Steg erkennen, der weit in die Ostsee ragte, mit vielen Menschenpünktchen drauf. Er war auf einer der Ansichtskarten in der Küche vom Bonhöfer zu sehen gewesen.
»Schön, oder?«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Oskar sich neben Porsche und mich in den Sand gesetzt hatte. Ich
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