Rico, Oskar und der Diebstahlstein
brauchte. Mein Gesicht war so nass, als würde ich drauÃen im Regen stehen. Der Bühl wuschelte mir kurz grinsend durch die Haare, und im nächsten Moment waren die beiden auch schon zwischen hundert anderen Sonderangebotsurlaubern verschwunden.
Ich starrte ihnen nach, einen kleinen, ängstlichen Klumpen im Bauch. Das ging mir alles zu schnell. Mama war noch nie länger als drei Tage am Stück von mir weg gewesen, und ich hatte Bammel um sie. Womöglich fiel ihr Flugzeug unterwegs in ein Loch in der Luft, so was gibt es nämlich, oder Sri Lanka ging im Indischen Ozean unter, einfach so, bloà um mal etwas Abwechslung oder um selber mal Urlaub zu haben von den vielen Urlaubern. Ich kniff die Augen zu und versuchte eine Prophezeiung hinzukriegen, ob alles in Ordnung gehen würde. Aber da war nichts auÃer Dunkel â¦
⦠nur war es vielleicht kein gewöhnliches Dunkel, dachte ich erschauernd, sondern das fürchterliche Schwarz des Todes!
Mann, Mann, Mann!
Als ich die Augen wieder öffnete, war das Letzte, was ich von Mama sah, ihr schlankes Handgelenk, das aus einem Meer von Köpfen herausragte und mir zuwinkte. Es war ein hübsches Armband drum, ihr Weihnachtsgeschenk vom Bühl. An das Armband gehören kleine Anhänger dran, die man sich zu allen möglichen Gelegenheiten schenken lassen kann, zum Beispiel zur Silberhochzeit. Silberhochzeit ist ein Fest für Ehepaare, wenn sie 25 Jahre miteinander verheiratet sind, aber Frau Dahling hat mal gemeint, so lange würde heutzutage kaum noch jemand durchhalten, weil Männer â eigentlich sagte sie Kerle und noch eigentlicher sagte sie Dreckskerle  â, also, weil Männer so gerne fremdgehen, und deshalb sei die Silberhochzeit inzwischen fast ausgestorben, und wenn die Männer so weitermachten, würden die Frauen auch bald aussterben, und zwar freiwillig, weil sie von den Dreckskerlen die Nase voll hätten, bis auf die natürlich, die beim Fremdgehen selber mitmachten, und die nannte Frau Dahling nicht Frauen, sondern Weiber, und noch eigentlicher sagte sie Flittchen.
Mir wäre es ja lieber gewesen, der Bühl hätte Mama statt des Armbands einen Verlobungsring geschenkt, dann hätten sie direkt nach Weihnachten heiraten und sofort damit anfangen können, Wochen und Monate für ihre Silberhochzeit zu sammeln. Aber nein, seit die zwei zusammen sind, ist von Heiraten noch nie die Rede gewesen. Von Zusammenwohnen auch nicht, dabei weià ich vom Bühl, dass er total gern zu mir und Mama raufziehen würde. Platz genug wäre ja. Aber Mama meint, selbst wenn sie ihn jemals heiraten würde, wollte sie ihre eigene Wohnung behalten, vielen Dank auch! Und deshalb hängt an ihrem Armband bis jetzt nur ein einziger kleiner Anhänger, ein goldenes Herzchen zur Feier der Verliebung von ihr und dem Bühl. Ich bin ja keiner, der andere drängelt, aber wenn die zwei sich nicht beeilen, bin ich irgendwann erwachsen und hab selber eine Frau. Ich finde, Eltern sollten nicht erleben müssen, dass ihre Kinder vor ihnen heiraten.
Und schon gar nicht sollten sie vor der Hochzeit von ihrem einzigen Kind bei einem Flugzeugabsturz sterben. Auf der Rückfahrt presste ich mir die Nase am Beifahrerfenster platt, aber am dunkelgrauen Himmel über Schönefeld waren keine Flammenbälle oder dergleichen zu sehen. Okay, vielleicht guckte ich auch in die völlig falsche Richtung, oder womöglich war der Flieger sofort nach dem Abheben wieder runtergefallen, ohne viel Gedöns. Dann wäre ich seit einer halben Stunde bereits ein Waisenkind, ohne es zu wissen. Im Waisenhaus würden sie mich Porsche nicht behalten lassen, der käme dann in sein eigenes Heim, oder er würde davonlaufen und verhungern, und ein tiefbegabtes Kind findet garantiert nicht so schnell nette neue Eltern in einer netten Geradeaus-StraÃe wie der Dieffe, und â¦
KLACKER , KLICKER , KLACKER  â¦
Na toll! Die Bingokugeln hatten seit Ewigkeiten Ruhe gegeben, aber jetzt ⦠Ich drehte mich schnell zu Irina um.
»Irina?«
»Hm?«
»Kannst du mich apportieren, wenn der Flieger abstürzt?«
»Was ist apportieren?«
»Wenn man ein fremdes Kind als sein eigenes annimmt.«
»Ist adoptieren.«
»Hab ich doch gesagt.«
»Hast du nicht.«
Wir waren gerade an der Apfelsinen-Unfallstelle vorbeigekommen. Der LKW lag immer noch da, aber vom Fahrer war
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