Rico, Oskar und die Tieferschatten
Foto musste auf dem Spielplatz von ihrer Grundschule geknipst worden sein, denn im Hintergrund sah man ein großes Gebäude, in dessen Fenstern lauter bunte Bilder klebten, vermutlich von innen drangemacht.
Im Gegensatz zu dem alten, verschwommenen Foto war dieses hier ganz scharf. Sophia sah darauf zwar auch nicht hübscher aus als sonst, aber immerhin viel netter. Sie lächelte. Ihre Haare waren gewaschen und sie trug auch nicht mehr das zerknitterte rosa T-Shirt mit dem dicken Erdbeersoßenfleck auf der Brust, sondern ein gebügeltes hellblaues. Allerdings ...
Ich beugte mich vor. Es war kaum zu glauben, aber Sophia hatte das hellblaue T-Shirt fast an derselben Stelle schon wieder bekleckert! Die Kamera holte das Bild immer dichter ran. Und zum zweiten Mal an diesem Abend blieb mir das Herz stehen. Das war kein Soßenfleck, wie ich jetzt erkannte.
Es war ein kleines, knallrotes Flugzeug mit einer abgebrochenen Flügelspitze.
MITTWOCH
AUF DER SUCHE NACH SOPHIA
Liebe Mama,
den Computer habe ich absichtlich angelassen, damit Du gleich mein Tagebuch findest, wenn Du nach Hause kommst. Ich will Dir keinen Kummer machen, aber ich muss Oskar helfen. Das ist der mit dem blauen Helm. Wenn mir was passiert, kannst Du meinen Reichstag knacken, um die Beerdigung zu bezahlen. Falls Onkel Christian gestorben ist, kannst Du mich aber auch zu ihm in den Sarg legen. Wenn ich tot bin, macht mir das nichts mehr aus. Herzliches Beileid!
Dein Rico
Noch was: Der Bühl soll sich gefälligst um Dich kümmern! Er ist sehr nett und hat ein schönes Wohnzimmer; vor allem die Decke. Ich hab Dich lieb!
Es war halb neun Uhr morgens und der Tag war frisch und nass. Ich stand vor der Dieffe 93 und guckte in eine schmutzige Pfütze, die der Regen der letzten Nacht auf dem Gehsteig hinterlassen hatte. Von den Bäumen mit der Pelle-Rinde waren Blütensamen reingerieselt, hunderte und hunderte. Sie sahen aus wie winzige Fallschirmflieger. Ab und zu fiel aus den Zweigen über mir ein Tropfen, platschte in die Pfütze und ließ die Samen wie kleine Boote über das flache Wasser schießen.
Ich war gut ausgerüstet. In meinem Rucksack steckte Mamas Stadtplan von Berlin. Das Geld, das sie mir dagelassen hatte, hatte ich ebenfalls dabei - zwanzig Euro. Und wenn ich an meine Hosentasche griff, konnte ich den roten Flieger ertasten, den ich aus dem Müllcontainer gefischt hatte.
Eins war ja wohl mal klar: Oskar musste diesen Flieger von Sophia geschenkt bekommen haben - genau diesen Flieger mit der abgebrochenen Flügelspitze. Dass er ihn ihr geklaut hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.
Aber warum hatte er Sophia in Tempelhof besucht?
Was hatte sie ihm erzählt?
Ich wurde einen Verdacht nicht los, den ich selber einerseits völlig unglaubwürdig fand, andererseits aber völlig passend, wenn man jemanden wie Oskar kannte: Oskar hatte auf eigene Faust versucht, Mister 2000 aufzuspüren. Wie er auf diese beknackte Idee gekommen war und warum seine Suche ihn letzten Samstag in die Dieffe verschlagen hatte, wusste ich nicht. Aber er musste einem Hinweis nachgegangen sein, den er von Sophia erhalten hatte. Einem entscheidenden Hinweis, den Sophia der Polizei entweder nicht gegeben oder den keiner ernst genommen hatte.
Mir schwirrte der Kopf so sehr, dass es fast wehtat. Hatte Mister 2000 sich Oskar womöglich gar nicht zufällig ausgesucht, sondern ihn deswegen gekidnappt, weil der ihm auf die Schliche gekommen war? Wollte Oskar Mister 2000 allein überfuhren und hatte sich deshalb freiwillig als Opfer angeboten, indem er einfach jeden Tag ein bisschen allein durch die Gegend gelaufen war? Und falls das so war, warum hatte Oskar niemanden in seinen Plan eingeweiht?
Solche Gedanken flogen in meinem Kopf wild durcheinander, wie aufgescheuchte Hühner, hinter denen einer mit dem Hackebeil her ist. Letzte Nacht war ich schon im Nachdenksessel eingeschlafen vor lauter Anstrengung. Aber immerhin war ich vorher noch auf die Idee gekommen, Sophia aufzusuchen - auch wenn ich jetzt nicht von der Stelle kam, sondern hier stand und in diese blöde Pfütze glotzte.
Mann, Mann, Mann!
Es ist nicht etwa so, als wäre ich noch nie aus dem Kiez rausgekommen oder hätte noch nichts von Berlin gesehen. Aber ich war noch nie allein in der Stadt unterwegs. Irina hat einen schnellen Flitzer, mit dem fahren wir an schönen Sommertagen zu dritt durch die Gegend. Wir düsen vom Alex zum Funkturm und wieder zurück, am Brandenburger Tor vorbei und dann rein nach
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