Rico, Oskar und die Tieferschatten
Weg zum Schulgebäude, stand eine Bank. Auf der Rückenlehne saßen zwei Jungen. Der eine hatte blonde Stoppelhaare und war etwa so groß wie Oskar. Der andere hatte unordentliche braune Haare, war ein gutes Stück größer als ich und redete eindringlich auf den Stoppelkopf ein. Wenn er an jüngere Kinder gewöhnt war, würde er mich sicher nicht gleich verkloppen, falls ihm meine Nase nicht passte.
Langsam schlenderte ich auf die beiden zu. Der Große war so sehr mit Reden beschäftigt, dass er mich erst bemerkte, als ich schon bis auf zwei Meter an sie rangekommen war. Der Kleine hatte mich die ganze Zeit beobachtet, mit bewegungslosem Gesicht und ohne den Großen auf mich aufmerksam zu machen.
»Was ist?«, sagte der Große, als ich vor ihnen stand. Er guckte nicht böse oder unfreundlich. Eher genervt, weil mein Auftauchen ihn ablenkte.
»Kennt ihr euch hier aus?«, fragte ich ihn.
»Warum?«
»Ich suche jemanden, der hier in der Nähe wohnt.«
Das war nur eine Vermutung, aber die meisten Kinder haben es nicht weit bis zu ihrer Schule. Sophia saß vielleicht nur einen Häuserblock von hier entfernt in ihrem Kinderzimmer und sortierte ihre bunten T-Shirts.
Der Große gab keine Antwort.
»Sie heißt Sophia und geht auf diese Schule«, fuhr ich beharrlich fort. »Ihren Nachnamen kenn ich nicht. Sie ist das Mädchen, das vom ALDI-Kidnapper entfuhrt wurde.«
Er nickt bloß, als würden ihn jeden Tag Leute nach Sophia befragen. »Und wenn ich weiß, wo sie wohnt?«
»Kannst du es nur ja sagen.«
»Du hast dich ja nicht mal vorgestellt.«
»Ich heiße Rico.«
»Felix.«
»Nein, Rico.« Hörte der schlecht?
»Ich bin Felix. Also, was willst du von Sophia?«
»Sie ist meine Freundin.«
»Du kennst ihren Nachnamen nicht und du weißt nicht, wo sie wohnt?« Er lachte leise auf. »Komische Freundin. Komischer Freund.«
»Ich kann mir Adressen und dergleichen nicht behalten. Ich bin tiefbegabt.«
Felix kniff die Augen zusammen. Er verstand das Wort nicht. Es dauerte nur eine Sekunde, dann war der Kampf mit mir selbst ausgefochten und ich sprach das verhasste andere Wort dafür aus. »Behindert. Aber nur im Kopf und nur manchmal«, fügte ich rasch hinzu.
Der blonde Stoppelkopf sah mich unentwegt an, ohne einen Pieps von sich zu geben. Womöglich atmete er nicht mal. Er hatte hellblaue und irgendwie wässrige Augen, die aussahen, als könnte ein Marienkäfer darin baden. Ich fand ihn ein bisschen unheimlich.
»Also, mal angenommen, du bist wirklich leicht beknackt«, sagte Felix. »Warum sollte ich dich dann auf Sophia loslassen?«
»Weißt du denn, wo sie wohnt?«
»Ich geh mit ihrem Bruder in dieselbe Klasse. Ist ein Vollidiot.« Er überlegte kurz. »Vielleicht wird man automatisch ein Vollidiot, wenn man sich das Zimmer mit seiner kleinen Schwester teilen muss. Ich würde jedenfalls wahnsinnig. Vielleicht ist Tobias aber auch nur tiefbegabt.«
»Wer ist Tobias?«
»Sophias Bruder, du Hirnbremse!«
Das war doch unerhört! Erst der Kiesling und jetzt auch noch Felix. Zum zweiten Mal an diesem Morgen musste ich meinen Ärger runterschlucken, um weiterzukommen. Falls ich Oskar je wiedersah, war er mir mehr schuldig als einen Spaziergang am Landwehrkanal mit anschließendem Eisessen, das stand mal fest.
»Fünf Minuten früher, und du wärst mit Tobias zusammengerauscht. Seine Mutter hat ihn zum Einkaufen geschickt.« Er kicherte leise und zeigte mit einer Hand über die Schulter. »Rüber zu ALDI.«
»Ich will Sophia nur was fragen«, sagte ich.
»Was?«
Er würde mich nicht zu ihr bringen, wenn ich es ihm nicht verriet. Das sagte er nicht, aber ich konnte es in seinem Gesicht sehen.
Ich holte tief Luft. »Der Junge, der gestern entfuhrt wurde ...«
»Was ist mit dem?«
»Sophia kennt ihn. Und ich dachte, ich frag sie mal -«
»Ob sie ihn auf Mister 2000 angesetzt hat? Alter, du bist vielleicht drauf!« Felix stieß ein lautes Lachen aus, so begeistert war er von seiner dämlichen Idee. Dann wurde er wieder ernst. »Was willst du von ihr hören? Infos, die sie der Polizei verschwiegen hat?«
»So was in der Art«, murmelte ich.
»Weil sie einem Kind eher vertraut als einem Erwachsenen?«
Ich nickte. Das war meine Idee gewesen, und dieselbe Idee musste auch Oskar gehabt haben.
»Na dann.«
Unvermittelt schwang Felix sich von der Bank. Der Stoppelkopf tat es ihm gleich.
»Du weißt schon, mit wem du dich da anlegen willst, he?«, sagte Felix, als wir den Spielplatz verließen. »Mister
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