Rico, Oskar und die Tieferschatten
ich schlag dir was vor«, sagte er, während er sie sich überstreifte. »Du kommst morgen am späten Nachmittag wieder, dann habe ich mehr Zeit für dich. Und für deine Geschichte. Einverstanden?«
»Ich weiß nicht, ob ...«
»Wenn du sie mir lieber nicht erzählen willst, werde ich dich sicher nicht drängen. Aber die Einladung steht, okay?« Er zeigte auf die Tür und versuchte ein Lächeln, das aber seine Anspannung nicht verbergen konnte. »Und jetzt raus hier, du tiefbegabter Schnüffler!«
Frau Dahling strahlte mich an wie der Weihnachtsstern, als ich so unvermutet vor ihrer Tür stand, und da wusste ich plötzlich, dass das graue Gefühl viel öfter zu ihr kommt, als ihr lieb ist. Zum ersten Mal fragte ich mich, warum sie keine eigenen Kinder hatte.
»Mama ist weggefahren«, erklärte ich, als ich in den Flur trat. »Sie kommt frühestens übermorgen zurück.«
»Wo ist sie denn hin?«
»Zu ihrem Bruder unten links. Er hat Krebs.«
»Du liebe Zeit!« Frau Dahling drückte die Tür ins Schloss und drehte sich mit erschrecktem Gesicht zu mir um. »Ist es ernst?«
»Christian. Mehr Brüder hat Mama nicht.«
»Das weiß ich. Ob es schlimm um ihn steht, meine ich.«
»Ach so ... Keine Ahnung.«
Frau Dahling schüttelte traurig den Kopf. »Tja, es trifft wohl immer die Falschen.«
»Wer wäre denn der Richtige?«
»Der Mommsen«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Was ist mit dem?«
»Hab mich eben erst wieder mit ihm gestritten, als ich zum Haus reinkam. Seit Wochen klemmt die Tür zum Hinterhof, das hast du sicher schon gemerkt?« Sie wartete mein Nicken gar nicht ab, so sehr war sie in Wallung. »Man kriegt sie kaum noch aufgedrückt, wenn man den Müll rausbringt, es wird von Tag zu Tag schlimmer! Aber meinst du, diese wandelnde Schnapsflasche von einem Hausverwalter kümmert sich darum?«
Ich zuckte die Achseln und folgte ihr an den Bildern mit den weinenden Clowns vorbei in die Küche. »Jedenfalls ist Krebs nicht ansteckend«, sagte ich, um sie vom Mommsen abzulenken. Wenn sie weiter herumschimpfte, vergaß sie womöglich die Müffelchen.
»Hast du das etwa geglaubt?«, fragte sie mich über die Schulter.
»Quatsch! Ich dachte bloß, Sie wissen das vielleicht noch nicht.«
Im Gegensatz zu dem bescheuerten Marrak fand Frau Dahling es offenbar gar nicht schlimm, dass Mama mich allein gelassen hatte. Jedenfalls erwähnte sie es mit keinem Wort. Stattdessen wurde sie endlich kümmerig.
»Ich wollte mir gerade was zurechtmachen. Hast du schon was gegessen?«
»Müsli, heute Nachmittag.«
»Gut, dann mach ich uns Müffelchen.«
Na bitte!
Sie öffnete den Kühlschrank, um Wurst und Käse, Gürkchen und Tomaten rauszuholen. »Übrigens, wie es der Zufall will, habe ich einen neuen Film gekauft.«
Ich lehnte mich gegen den Esstisch. »Ist es ein Krimi?«
»Liebesfilm. Pretty Woman. Schon mal davon gehört?«
»Nein. Worum gehts?«
»Um ein Callgirl, das sich in einen reichen Mann verliebt.«
»Was ist ein Callgirl?«
»Tja.« Frau Dahling wandte sich wieder dem Kühlschrank zu und begann ziemlich hektisch darin herumzuwühlen.
»Wo ist denn bloß die Butter?«
»Neben dem Senfglas. Was ist ein Callgirl? Wissen Sie's nicht?«
»Doch, ich ...« Ihre Schultern klappten nach vorn, als versuchte sie, sich selber zusammenzufalten. Sie drehte sich zu mir um, die Butter in einer Hand, und musterte mich prüfend. »Ach, was soll's, ich schätze, du bist groß genug für so was.«
»Groß genug für wie was?«
»Um über bestimmte Dinge Bescheid zu wissen.« Sie legte die Butter auf den Tisch zu den anderen Sachen. »Also, ein Callgirl, das ist eine Frau, die für Geld dafür sorgt, dass Männer einen schönen Abend verbringen.«
»So wie Mama?«
»Nein. Nein-nein-nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Deine Mama arbeitet nur in einem Club, in dem Callgirls Männer kennenlernen! Sie passt auf, dass diese Männer höflich bleiben und dass sie, ehm ... dass sie genug trinken, wenn ihnen zu warm wird.«
»Sie leitet den Club!«, sagte ich stolz. »Als Geschäftsführerin. Sie bestimmt, welche Getränke eingekauft werden und dergleichen.«
»Und dergleichen, ja«, sagte Frau Dahling mit einem Seufzer. Sie nahm Brot aus dem Schrank. »So, nun lass mich mal das Essen machen. Setz dich ins Wohnzimmer und wirf schon mal die Flimmerkiste an. Dann kannst du mir beim Essen erzählen, was in der Welt los ist.«
Sie meinte Politik. Ich hätte ihr lieber weiter zugeguckt.
»Das kann
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