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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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Vormittag, war er bereits entfuhrt worden, vermutlich als er gerade auf dem Weg zu mir gewesen war.
    Und das konnte wiederum nur bedeuten ...
    Es konnte nur bedeuten ...
    Ich hatte keine Ahnung, was es bedeuten konnte, sollte oder musste. Wie immer, wenn ich zu aufgeregt bin, spürte ich meinen Herzschlag und fühlte tausend Geistervögel durch meinen Kopf flattern. Ich umklammerte ihn mit beiden Händen, wie mit einer Schraubzwinge. Verzweifelt starrte ich aus dem Fenster gegen das Hinterhaus. Ich musste ewig geschlafen haben, draußen dämmerte es bereits. Mein Magen knurrte vor lauter Hunger wie ein Kampfhund. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte zum zweiten Mal an diesem Tag geweint.
    Aber ich wollte nicht weinen. Ich musste mit jemandem reden. Manchmal, wenn man Leuten etwas erzählt, das einen völlig durcheinanderbringt, ist man danach nämlich weniger durcheinander.
    Und ich wusste genau, zu wem ich gehen konnte.

    »Ich habe mich schon gefragt, ob du dich an meine Einladung erinnern und heute Nachmittag wirklich wiederkommen würdest«, sagte der Bühl. »Wir waren zwar so gut wie verabredet, aber ...«
    Ich hatte es nicht vergessen. Am besten konnte ich mich an das warme Gefühl erinnern, das mich durchflutet hatte, als ich ihm von meinem toten Papa erzählen wollte. Wie der Bühl mich angeguckt hatte, und wie sein kaltes Wohnzimmer um mich herum aufzutauen schien, als wäre es vorher ein Zimmer aus Winter und Eis gewesen. Ich kam mir vor wie ein kleines Schiff bei hohem Wellengang auf offener See, und der Bühl war mein sicherer Hafen.
    »... aber ich hatte den Eindruck, als hättest du plötzlich ein bisschen Bammel vor deiner eigenen Courage bekommen.«
    »Was ist Courage?«
    »Mut.«
    Ich nickte bloß. Jetzt hatte ich zwar ein neues Wort gelernt, aber keine Ahnung mehr, wie der Bühl den Satz begonnen hatte. Wenn ich ihm das beichtete, würde er mich wahrscheinlich sofort wieder für bescheuert halten, und es war wichtig - im Moment war es die wichtigste Sache der Welt! dass er einen guten Eindruck von mir behielt. Der Bühl sollte mir helfen, Oskar zu finden.
    Ich saß in seinem weißen Wohnzimmer auf seinem weißen Sofa. Vorsichtshalber guckte ich nicht rauf zu der schönen Stuckdecke, um nicht durcheinanderzukommen mit dem Aquarium und dergleichen. Vor mir stand eine Cola auf dem Tisch. Ich hatte überlegt, den Bühl nach Müffelchen zu fragen, aber das hätte er vielleicht als unhöflich empfunden. Er stand da mit seiner coolen Narbe am Kinn, lächelte sein tolles Schauspielerlächeln und guckte zu mir runter.
    »Hat deine Mutter sich mal gemeldet?«, sagte er.
    »Ich schätze, sie hat es versucht. Irgendwann hat das Telefon geklingelt, aber da hab ich gerade geschlafen.«
    Ich nippte vorsichtig an der Cola. Mit Cola muss man aufpassen. Ich hab mal gehört, dass zu viel davon einem von innen Löcher in den Magen brennt, und dann gluckert die Cola einfach durch dich durch und überallhin, und wenn du beim Edeka an der Käsetheke stehst, läuft dir plötzlich braunes Zeug aus der Nase.
    »Hast du kein Handy?«, sagte der Bühl.
    »Nee. Zu teuer.« Offen gestanden wusste ich auch nicht, mit wem außer Mama ich telefonieren sollte. Man konnte natürlich eine von diesen komischen Nummern anrufen, wo einem dann französische Kochrezepte durchgegeben werden, die Lottozahlen aus Brasilien oder der Wasserstand von irgendeinem Fluss in Russland, aber wer will das schon wissen? Es kostet bloß einen Haufen Geld, sagt Mama immer.
    Als hätte das Handy vom Bühl ihn gehört, fing es plötzlich an zu klimpern, genau wie bei meinem letzten Besuch. Der Bühl verdrehte genervt die Augen. »Scheint unser Schicksal zu sein«, murmelte er. »Immer, wenn wir uns unterhalten wollen ...«
    Er zog das Handy aus der Hosentasche, guckte drauf und sah plötzlich so aus, als wollte er im Moment sehr viel lieber mit dem Anrufer sprechen als mit mir.
    »Gehen Sie ruhig dran«, sagte ich großzügig. Solange er nach dem Anruf nicht gleich wieder aus der Wohnung stürmte ...
    Die Lippen vom Bühl bewegten sich, als sagten sie Entschuldigung, und im nächsten Moment verschwand er aus dem Wohnzimmer.
    Ich stellte meine Cola ab und schaute mich um. Nichts hatte sich verändert, alles sah genauso aus wie gestern. Sogar das leere Glas stand noch unberührt so auf der BILD-Zeitung, wie es gestern gestanden hatte, auf dem inzwischen getrockneten Wasserfleck genau über dem Busen von Fußpflegerin Cindy. Ich rümpfte die Nase,

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