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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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Spielzeug, Klamotten, Comics, Schulzeug, Hüllen von CDs und Computerspielen waren über den Boden verstreut. Leere und halbleere Sprudelflaschen, benutzte Teller und Tassen standen und lagen überall herum.
    Ein Kind musste Tage brauchen, um sich durch so viel Dreck einen Weg nach draußen in den Flur zu bahnen. Und über allem lag dieser traurige graue Schleier, als wäre hier vor fünfzig Jahren ein Staubsaugerbeutel explodiert.
    Sophias Oberkörper ragte aus der Unordnung heraus wie eine zum Untergang verdammte Insel. Sie stand einfach so da, in der Mitte des Zimmers, als ob sie schon lange auf jemand anderen wartete oder wie jemand, der sich auf einen Wettbewerb im Einschlafen im Stehen vorbereitet.
    »Hi!«, sagte ich.
    Sie runzelte die farblosen dünnen Brauen. Ihr Blick war so trübe, als versuchten ihre Augen, in diesem grauen Zimmer nicht weiter aufzufallen. Hinter ihr erhob sich ein Etagenbett. Sie musste ziemlich müde sein, bis sie sich jeden Abend über die Müllberge ins Bett gekämpft hatte. Mir blieb nicht viel Zeit. Tobias konnte jeden Moment vom Einkaufen wiederkommen. Ich zog das rote Flugzeug aus der Hosentasche. Und plötzlich wurde Sophias Blick ganz hell.
    »Den habe ich von Oskar, und er hat ihn von dir.«
    Sie starrte den Flieger an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Er schwebt in großer Gefahr — das weißt du doch, oder?«
    Für einen Moment befürchtete ich, sie hätte von Oskars Entführung nichts mitgekriegt, aber dann nickte sie. Hätte mich auch gewundert, schließlich lief hier bestimmt den ganzen Tag die Glotze. Das Gezänk der streitenden Nachbarn aus der Talkshow drang bis ins Kinderzimmer.
    »Du hast Oskar etwas erzählt, oder?«, sagte ich vorsichtig. »Etwas, das du der Polizei verschwiegen hast, weil der Entfuhrer gedroht hat, dass dann was Schlimmes passiert. Hab ich Recht?«
    Endlich machte sie den Mund auf. Ihre Stimme war so piepsig wie die von einem Vogel, der gerade aus dem Nest abgehauen ist, sich aber noch nicht zu fliegen traut.
    »Der Klimpermann hat gesagt, wenn ich ihn verpetze, holt er Jannek und macht ihn tot.«
    Ich sah sie irritiert an. »Jannek?«
    Sie zeigte auf einen klebrigen Schreibtisch, der so voll war, dass man dort nicht mal einen Einkaufszettel beschreiben konnte. Ein Fernseher thronte neben einem Computerbildschirm. Hinter einer fettigen, verknitterten McDonald s-Verpackung stand ein rundes Goldfischglas. Etwas Gammeliges paddelte darin herum.
    »Er ist krank. Da ist irgendwas an seinen Flossen.«
    Also echt, wenn das mal nicht das Allertraurigste von der Welt war! Mister 2000 hatte Sophia gefragt, wen sie am liebsten hatte, um sie damit zu erpressen. Und Sophia hatte ihm nicht ihre Eltern oder ihren Bruder genannt, sondern ihren kranken Goldfisch!
    Ich glotzte das runde Glas an und Jannek glotzte zurück. Er wedelte mit zwei farblosen, merkwürdig zerfaserten Brustflossen. Mir wurde mulmig. Womöglich waren Bakterien für diese Krankheit verantwortlich, die hier irgendwo im Zimmer zwischen oder hinter den Müllbergen lauerten.
    Womöglich waren es springende Bakterien oder fliegende. Ich versuchte, nur noch ganz vorsichtig zu atmen, und konzentrierte mich wieder auf Sophia.
    »Warum nennst du den Entfuhrer Klimpermann?«
    Sie schüttelte langsam, aber trotzig den Kopf.
    »Mir kannst du es ruhig sagen. Ich verrate es keinem.«
    »Das hat Oskar auch gesagt!«, stieß sie unerwartet laut aus. »Und jetzt ist er in dem grünen Zimmer eingesperrt!«
    »Was für ein grünes Zimmer?«
    Keine Antwort.
    »Sophia, Oskar ist mein Freund«, drängte ich. »Ich will ihm helfen, aber das kann ich nur, wenn du mir hilfst!«
    In ihre Augen war ein abwehrendes Funkeln getreten.
    Sie ballte die kleinen Hände zu Fäusten.
    Ihre schmalen Lippen wurden zu noch dünneren Strichen.
    Da war nichts zu machen. Ich hielt ihr den roten Spielzeugflieger entgegen. Sie nahm ihn zögernd an, als hätte sie nie ein kostbareres Geschenk erhalten. Mit einem plumpen Finger streichelte sie über die abgebrochene Flügelspitze.
    »Er hat gesagt, er mag mich«, sagte sie leise.
    »Das tut er auch. Er hat den Flieger ständig getragen. Aber irgendwann hat er ihn verloren. Als er entführt wurde vielleicht.«
    Sie sah zu mir auf, jetzt wieder ganz trotzig. »Ich war teuer«, sagte sie.
    »Ja, ich weiß.«
    »Aber Mama hat Geld gekriegt für die Interviews.« Ich nickte. Der neue Fernseher. Sein Dröhnen begleitete mich bis ins Treppenhaus, als ich diese traurige Wohnung verließ,

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