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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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Schulfreundin«, sagte ich endlich. »Meine Mutter hat angerufen. Mein Vater ist tot und ich muss sofort nach Hause. Ich soll mir ein Taxi nehmen.«
    Das war eine ziemlich dreiste Notlüge, aber sie funktionierte. Ich fing endgültig an zu heulen, und das Gesicht des Taxifahrers fiel in sich zusammen vor Anteilnahme. Er drehte sich um, startete den Wagen und fuhr los. Bis er mich vor der Haustür in der Dieffe abgesetzt hatte, sagte er kein Wort mehr, und als er dreizehn Euro vierzig kassierte, sah er dabei fast aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

IMMER NOCH MITTWOCH
    TIEFERSCHATTEN

    Traurige Sachen ziehen alle Kraft aus einem raus und machen einem wackelige Beine. Bis zum Mittag hatte ich meine Erlebnisse ins Tagebuch getippt. Jetzt saß ich im Nachdenksessel, glotzte zum Fenster raus und dachte an Felix, den Geschichtenerzähler ohne richtigen Zuhörer, an den stummen Sven mit seinen Marienkäferbadewannenaugen und an Sophia, die von so viel grauem Gefühl umgeben war. Ich dachte an Oskar, der jetzt irgendwo gefangen war und, so schlau er auch sein mochte, ganz bestimmt große Ängste hatte. Dann fiel ich mir selber ein, wie ich wegen meiner Tiefbegabtheit hier herumsaß und nicht weiterwusste. Jemandem, der schlauer war als ich, wäre es bestimmt gelungen, Sophia mehr Informationen zu entlocken.

    Ich verkroch mich in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ab und zu blinzelte ich durchs Fenster auf die rissige Fassade vom Hinterhaus, die tagsüber weniger gruselig war als abends und nachts, wenn die Tieferschatten kamen. Ein bisschen froh und stolz hätte ich immerhin sein können, überlegte ich, weil ich mich allein bis Tempelhof getraut und dabei überlebt hatte. Aber das machten täglich tausende von Menschen. Es war nicht normal, Angst vorm Verlaufen zu haben, nur weil man zu doof für links und rechts war.
    Letzte Nacht hatte ich schlecht und viel zu wenig geschlafen. Meine Augen fielen von ganz alleine zu. Irgendwann schreckte ich hoch, weil ich meinte, das Telefon hätte geklingelt, aber die Wohnung war still. Nach dem gestrigen Regentag und dem verhangenen Morgen schien inzwischen wieder voll die Sonne. Draußen musste es richtig heiß sein. Dann döste ich erneut ein.
    Im Traum stand Oskar vor mir auf dem Dachgarten der RBs. Eben hatte er seine Mutprobe bestanden, als er über das Geländer nach unten in den Hinterhof geschaut und dabei herumgewippt hatte. Jetzt sah er mich an, und ich wollte unbedingt wissen, ob er mein Freund war. Ich hörte mich meine Testfrage stellen, ob er morgen wiederkommen würde. Ich sah, wie Oskar sich am Arm kratzte. Wie er an seinem Ansteckflieger zupfte. Wie er mit seinen großen Zähnen auf der Unterlippe herumknabberte, bevor er sagte: Eigentlich habe ich morgen schon was vor. Das kann den ganzen Tag dauern.
    Ich wurde so ruckartig wach, als hätte mir jemand auf den Kopf geschlagen, nur dass es nicht wehtat. Etwas stimmte nicht mit dem Traum. Oder etwas stimmte nicht mit meiner Erinnerung. Fast konnte ich es mit Händen greifen, aber immer, wenn ich sie danach ausstreckte ...
    Ganz ruhig bleiben, Rico, nur nicht aufregen! Ich machte die Augen zu und rief noch einmal die Bilder zurück. Sonne auf dem Dachgarten der RBs. Oskar steht am Geländer zum Hinterhof und wipp, wipp, wippt. Er kratzt sich am Arm. Er zupft an dem Flieger, den ich tags darauf im Müllcontainer finden werde, an dem kleinen roten Flieger, diesem Flieger —
    - von dem ich bisher geglaubt hatte, er hätte sich von seinem Hemd gelöst und wäre runter in den Hof gefallen, während Oskar am Geländer herumwippte!
    Ich schoss dermaßen schnell im Bett hoch, dass mir ganz schwindelig wurde. Meine Erinnerung stimmte nicht! Oskar hatte Sophias Flugzeug noch getragen, als er auf dem Dachgarten der RBs vom Geländer zurückgetreten war! Was nur bedeuten konnte ...
    »Er ist noch mal hier gewesen«, flüsterte ich.
    Aber wann? Nachdem wir uns am Montag verabschiedet hatten, hatte ich vom Wohnzimmerfenster aus zugesehen, wie Oskar das Haus verließ. Ich hatte mir noch einen Spaß daraus gemacht, im Kopf die Schritte mitzuzählen, die er durchs Treppenhaus bis zur Straße zurücklegte, um rauszukriegen, ob wir gleich schnell gehen würden. Oskar war schneller gewesen, als ich gezählt hatte. Am Montag hatte er also auf keinen Fall den Hinterhof aufgesucht, es sei denn, er wäre später noch einmal zurückgekommen und hätte bei jemand anderem geklingelt - sehr unwahrscheinlich. Und am Dienstag, gestern

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