Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
nützt euch eure Ausbildung, wenn ihr nachher mit drei Kindern am Herd versauert. Und schaut euch euren Zukünftigen genau an! Der schöne, starke Held eurer Jugend verwandelt sich sehr schnell in einen dickbäuchigen Sesselfurzer, der nach seinem Feierabendbier schreit.«
Die Mädchen aus der Klasse nickten trotzig mitfühlend. Ich wollte mich melden, einen Einwand bringen und die Einseitigkeit der Darstellung kritisieren, unterließ es aber in Anbetracht der Gesamtsituation.
»Haben Sie sich deshalb auch zuerst als Mörderin ausgegeben, weil Sie Mitleid mit Ihrer Mutter hatten? Das kann ich nämlich überhaupt nicht verstehen, dass Sie zwei Morde gestehen, die Sie nicht begangen haben. Da wandern Sie garantiert zuerst mal in den Knast, unter diesen Umständen sowieso: Denn wenn die Techniker in den Laboren mit der Genanalyse ein bisschen rumpfuschen und nicht präzise arbeiten, dann sehen die halt, dass wegen der Blutsverwandtschaft eine genetische Ähnlichkeit mit den gefundenen Spuren da ist. Und schon sitzen Sie lebenslänglich im Bau«, meldete sich fachmännisch Rolf.
»Ja, das hängt schon damit zusammen. Aber Auslöser war die einfache Tatsache, dass die Polizisten meinen Bruder in Handschellen abführen wollten, wie einen Schwerverbrecher. Und ich wusste ja, dass er unschuldig ist. Wir standen alle im Schankraum, ich direkt an der Scheibe. Wir konnten jedes Wort verstehen, was im Nebenzimmer geredet wurde. Da bin ich einfach ausgerastet und habe die Schuld auf mich genommen. Mir war schon klar, dass meine Mutter irgendwann auch gestanden hätte. Sie hätte Tobi nie unschuldig im Gefängnis gelassen. Aber ich denke … sie hatte noch etwas vor.«
Ann-Kathrins Blicke flogen wieder durch die Scheibe nach draußen, ohne jedoch das Draußen wahrzunehmen.
»Was?«
Im Klassenzimmer hörte man nur das Zischen und Ticken der Heizkörper. Alle warteten gespannt auf Ann-Kathrins Antwort.
»Ich habe mir in den letzten Tagen viele Gedanken gemacht. Ich kann mir vorstellen, dass sie versucht hätte, ihren Mann, meinen Vater, zu töten. Sie ist krank, sie sieht alles wie durch einen Tunnel. Sie sieht nicht mehr, was links und rechts abläuft, sie lebt in einer anderen Welt. Nachdem sie bemerkt hatte, dass sie eine Unschuldige, die Lehrerin, durch ihre Pilze beinahe getötet hatte, war sie wohl völlig verwirrt. Vermutlich kam es von diesem Punkt an zu einer Wende: Sie hat ihren gesamten Hass nicht mehr auf die Frauen projiziert, sondern auf ihren Mann.«
»Warum hat sie dann die Lehrerin nicht freigelassen? Die wäre ja gestorben.«
»Das weiß ich nicht, ich kann lediglich Vermutungen anstellen. Sie wird es ganz einfach verdrängt haben. Es kann sogar sein, dass sie es versucht hat, als Frau Knaus ohnmächtig war, aber die Eisenstangen, die das Abdeckgitter hielten, waren ja kaum aus dem Boden zu bekommen. Das hat ja Herr Bönle kaum mit dem Traktor geschafft.«
»Wie hat sie dann die Haltestangen rein bekommen?«
»Das ist einfach in dem weichen Boden, mit einem Hammer oder etwas Ähnlichem.«
Anita, Vickys dralle Nebensitzerin, meldete sich, ohne den Arm zu heben, zu Wort:
»Warum sind Sie eigentlich in der Klapse? Sie wirken gar nicht voll gaga!«
Bevor Ann-Kathrin antworten konnte, intervenierte ich:
»Erstens, Anita, meldet man sich, wenn man etwas zu sagen hat. Und zweitens: Formuliere den Satz bitte mal in deutscher Sprache.«
Anita schaute mich bar jeglichen Begreifens an und maulte dann:
»Also, warum sind Sie in der Irrenanstalt? Ich finde, Sie sind gar nicht so behindi, so plemplem eben.«
Ann-Kathrin schaute zu ihrem betreuenden Arzt und nickte ihm auffordernd zu. Herr Doktor von Abwinkel-Krausermann versuchte, Anitas Frage zu beantworten:
»Da muss ich einen kleinen Exkurs vorschieben für ein paar wenige Basisinformationen, um den hermeneutischen Spielraum einzuengen. Forensische Psychiatrie ist nur partiell Psychiatrie, quasi Segment eines Totum und unterliegt in ihrem Kontext primär der Jurisprudenz in ihrer …«
Ann-Kathrin schritt sensibel ein und unterbrach den fremdwortgewaltigen Doktorbetitelten:
»Ich bringe es mal auf einen ganz kurzen Nenner: Für euch mache ich hier gerade einen normalen Eindruck.«
Bei dem Wort ›normal‹ beschrieb Ann-Kathrin zwei Anführungszeichen in der Luft und fuhr fort:
»Die Schatten des Erlebten kommen aber in der Nacht, in jeder Nacht. Ich kann schlecht schlafen und fürchterliche Albträume plagen mich. Ich weiß, dass ich diese Therapie
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