Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
Adresse herausgesucht. Meine Mutter konnte das aber nicht, sie ging von meinem Vater weg zu ihrer Mutter ins Bärental. Sie hat sich geweigert, den Namen des Vaters preiszugeben, auch nicht bei den Behörden. Meine Oma hat hinter der ganzen Geschichte einen Liebhaber vermutet, der sich aus dem Staub gemacht hat. Bei ihr kam ich dann zur Welt und sie hat mich dann auch aufgezogen.«
»Warum ist die Frau Fränkel, ich meine Ihre Mutter, wieder zu ihrem Mann zurückgegangen?«
»Was sollte sie machen, sie konnte nicht für immer bei ihrer Mutter, also meiner Oma bleiben. Es war einfach nicht genug Geld da. Die Oma hatte mich dann quasi adoptiert und mein Vater hat nie etwas davon erfahren, dass er eine Tochter hat. Die Mutter ist zurück auf den Hof und hat gesagt, sie hätte das Kind bei der Geburt verloren. Mein Vater empfing sie wieder mit offenen Armen, da er jemanden brauchte, der tüchtig in der Metzgerei war und die Arbeiten auf dem Hof ebenfalls ohne Murren erledigte. Und Arbeiten und den Mund halten, das konnte sie früher.«
Eine übereifrige Hand schnellte nach oben:
»Sind Sie dann ganz allein aufgewachsen, ohne Vater und Mutter?«
»Ich hatte doch meine Oma. Sie hat sich rührend um mich gekümmert und meine Mutter hat mich immer wieder mal besucht. Ich kann mich vor allem an die Zeiten erinnern, es muss mit vier, fünf Jahren gewesen sein, da kam sie einmal im Monat. Sie saß dann die ganze Zeit bei mir. Wir spielten Schwarzer Peter oder sie zeichnete mit mir.«
Im Klassenzimmer kehrte Stille ein, niemand hatte eine Frage parat. Und Ann-Kathrin hatte den Blick weit in die Ferne gerichtet – in ihre Kindheit.
Vicky war die Stille unerträglich, sie meldete sich:
»Sie haben gerade vom Zeichnen gesprochen. An dem Scheunentor von den Fränkels war doch auch so eine Art Zeichnung, ääh, vielmehr ein Objekt.«
Ann-Kathrin sammelte sich, sie überlegte, wie sie es der Klasse erklären konnte.
»Da muss ich genau dahin, wo ich gerade aufgehört habe: in meine Kindheit. Die Mutter hat viel mit mir gemalt, sie hat auf ihren Besuchen immer Stifte und Hefte mitgebracht. Und eine Zeit lang hat sie mit mir versucht, Gott zu malen, wie er mich beschützt. Ich hatte damals wohl Ängste, vermutlich Verlassensängste, und meine Mutter wollte mir zeigen, wie Gott sie und mich beschützt. In der Zeit haben wir immer wieder diese Bilder gemalt …«
Ann-Kathrin stand auf und kramte aus ihrer Handtasche ein völlig zerknittertes, verblasstes Bild.
»Hat jemand Tesa?«
Ich sprang auf und wurstelte aus meinem Rucksack einen runden Haftmagneten. Ann-Kathrin befestigte das Blatt mit der kindlichen Zeichnung an der hellen, kleinen Präsentationstafel.
»Von hinten könnt ihr das nicht sehen. Ich zeichne deshalb das Bild mit Kreide groß nach.«
Mit einfachen Strichen zeichnete Ann-Kathrin in den oberen Bereich der klassischen, dunkelgrünen Schul-Tafel ein Dreieck, in das Dreieck ein Auge und an die Ecken jeweils einen Mund, eine Nase und ein Ohr. Darunter skizzierte sie zwei Strichmännchen und beschriftete sie mit ›Mama‹ und ›Ich‹.
»Als ich die Ängste hatte, erklärte mir meine Mutter, sie wäre immer bei mir, auch wenn ich sie nicht sehen würde. Und genau so würde das auch Gott im Himmel machen. Er würde immer auf mich heruntersehen und mit all seinen Sinnen bei mir sein. Er würde, wie gesagt, alles sehen, alles hören, alles wissen und, meine Mutter hatte dann lachend dazu gesagt, und auch alles riechen. Ich nahm das damals sehr ernst.«
»Dann waren Sie das mit dem Zeichen, dem Objekt am Scheunentor?«
»Ja.«
Betroffenes Schweigen kroch durch das Klassenzimmer. Herr Doktor von Abwinkel-Krausermann schaute besorgt zu seiner Patientin.
»Ich bin in Ordnung. Ich habe das ja auch schon bei der Polizei ausgesagt.«
Eine brummelnde Jungenstimme fragte:
»Warum haben Sie dann kein Auge genommen, ääh, die Lippen und so waren ja auch von …, ääh, halt echt?«
»Das hört sich vielleicht komisch an, aber das konnte ich nicht. Es ist etwas anderes, ein Ohr abzuschneiden als ein Auge aus einem toten Menschen herauszuschneiden. Es schaut einen an. Man sagt ja auch: Augen sind der Spiegel zur Seele.«
»Wenn Ihre Mutter immer mit Ihnen gezeichnet hat, warum haben Sie dann nicht bloß eine Zeichnung gemacht? Man muss doch nicht an einem Menschen, auch wenn er tot ist, etwas abschneiden?«
»Ich wollte, dass man wusste, dass ich Bescheid weiß. Ein Bild allein hätte da nicht gereicht. Die
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