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Riemenschneider

Riemenschneider

Titel: Riemenschneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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Doktor Staupitz musste ich im Sommer das behütete Klosterleben aufgeben und stattdessen an der hiesigen Universität mit dem Studium der Theologie beginnen. Mögen auch meine Kommilitonen die Huren- und Bierhäuser – und davon gibt es mannigfache in Erfurt ;– ;gerne aufsuchen, so widerstehe ich jeder Anfechtung und widme mich dem Denken des Aristoteles und unseren großen Kirchenvätern. Ihr seht, Vater, Euer Sohn will Euch mit seinem Fleiß erfreuen und durch Buße vor Gott Gnade finden …«
Der Blick sprang die Zeilen zurück: Hurenhaus. In seinem Innern öffnete sich eine Kammer: Leiber, nackte Brüste. Das Lachen, Gekicher zogen ihn hinein. Mit hochgerafften Röcken tanzten die Frauen, drehten sich und zeigten Schenkel, die prallen Hintern. Näher kamen sie. Der Hauch ihrer wirbelnden Kleider … süßer Duft entströmte …
»Nein!« Martin senkte den Kopf, presste die Stirn fest auf den Tisch. »O verfluchte Sünde. Wie soll ich je rein werden? Was nutzt das Verbot eines sündhaften Gedankens? Um ihn aus mir zu verbannen, muss ich ihn erst denken, und dies allein erzeugt neue Sünde.«
Schwer stand er auf, entledigte sich der Kutte, entblößte den Oberkörper, er nahm die fünfschwänzige Geißel. Den Blick fest auf das Kreuz an der Wand gerichtet, sank er in die Knie. Sein Arm fuhr hoch, und abwechselnd über die rechte und linke Schulter klatschten die bleigespickten Lederriemen auf den nackten Rücken. Nach wenigen Schlägen weinte Martin, jammerte, schluchzte bei jedem Hieb gequält auf.
Unbemerkt öffnete sich hinter ihm die Zellentür. »Bruder Martin! Genug!«
Beim Klang dieser Stimme erlahmte die Hand mit der Geißel sofort. Prior Dr. Johann von Staupitz war gekommen, sein Oberer, der Gelehrte und Vikar des Augustinerordens. Martin wagte nicht, den Kopf zu wenden, er fiel vornüber, streckte sich bäuchlings über den Boden und breitete beide Arme. »Ich bitte um Vergebung.«
»Seit Monaten wird mir von besorgten Mitbrüdern berichtet, dass du dir des Nachts Wunden zufügst, Schreie ausstößt. Ich befahl ihnen, mich zu wecken, konnte mich nun selbst überzeugen und bin entsetzt. Warum diese Selbstzerfleischung?«
»Meine Sünde. Alles versuche ich, faste und bete, doch ich gelange nicht aus der Sünde heraus. So erhoffe ich, durch Selbststrafe vor Gott Gnade zu finden.«
»Dummkopf.« Der Prior verschränkte die Arme. »Setz dich auf, ich will deine Augen sehen.«
Martin gehorchte und hob den Blick.
Ruhig betrachtete ihn der füllige Mann. »Ohne Sünde? Du willst dich von Sünde befreien?«
»Ja, Vater.«
»Wie das? Wenn du doch keine richtige hast.« Das ratlose Erschrecken beantwortete Dr. Staupitz zunächst mit leisem Lächeln, dann sagte er: »Christus hat die Mühe des Todes am Kreuz auf sich genommen, weil er uns Menschen die richtigen, die schweren Sünden vergeben will: also die Eltern ermorden, öffentlich Gott lästern, die Ehe brechen … solche und ähnlich schlimme müssen es schon sein.«
Martin war das Kinn gesunken, mit offenem Mund staunte er den Gelehrten an. Streng setzte Staupitz hinzu: »Du solltest dir ein Register mit solchen Vergehen anfertigen und Christus nicht mit diesem Humpelwerk und Puppensünden belästigen. Mein Sohn, hör endlich auf, aus jedem Furz eine Sünde zu machen.« Ohne abzuwarten, nickte ihm der Obere zu und verließ die Zelle.
Martin starrte auf das schwarze Guckloch, erwartete, dass von dort jeden Augenblick ein Unwesen hereindrang, um ihn zu ersticken. Nichts geschah, nur sein Herz pochte in den Schläfen. Vom Boden aus sah er den Rand des Blattes auf dem Tisch. »Und Ihr, Vater? War denn mein Entschluss so verwerflich?«
Martin kehrte zum Festtag zurück, seinem Fest. Am 2. Mai las der frisch geweihte Priester zum ersten Mal die Heilige Messe. Alle Freunde waren zur Primiz gekommen, die vielen Priester der umliegenden Kirchen und Klöster hatten sich versammelt, auch die Eltern waren mit allen Geschwistern und Verwandten nach Erfurt gereist. Zwanzig Pferde musste der Stallknecht für den Bergwerksbesitzer versorgen. Durch unermüdlichen Fleiß war Vater Hans in Mansfeld inzwischen zu beachtlichem Wohlstand gelangt, und er zeigte ihn mit Stolz und pelzbesetztem Kragen.
Vor aller Augen schenkte er dem Sohn zwanzig Gulden und lächelte sogar dabei. Martin trank dieses Lächeln als Hoffnung. Und beim Festmahl wagte er den strengen Mann über die Tafel hinweg anzusprechen: »Lieber Vater, warum habt Ihr Euch damals so entsetzt, dass ich ins Kloster

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