Riemenschneider
elendiglich langsam. Und jeder durfte mich nach Herzenslust mit der Prütsche bestrafen.« Unwillkürlich drückte Til den Rücken fester in die Strohmatte. »Dir muss ich nicht sagen, wie kräftig Steinmetze sind, und solch ein langes Flachholz in ihren Fäusten hinterlässt grünblaue Spuren auf dem Rücken.«
In der Empörung vergaß Tobias den schlafenden Knecht. »Solch eine Tortur hätte ich mir nicht gefallen lassen …« Jetzt erst senkte er wieder die Stimme. »Entweder hätte ich mich gewehrt oder wäre davongelaufen.«
»Aber nein, Junge. Sicher nicht. Eine Domhütte ist eine besondere Welt. Mit eigenen Gesetzen und eigener Ordnung. Und gerade die in Ulm war damals eine der besten. Wer dort für das Münster Steine schlagen durfte, der fügte sich allen Regeln, auch wenn es manchmal sehr schmerzhaft war.« Til sanken die Lider, durch den Spalt der Wimpern sah er, wie beide Sterne weit oben im Dunkel ineinander verschmolzen. »Ruh dich aus, Junge«, murmelte er. »Morgen … morgen ist unser großer Tag und vielleicht …« Das Ende des Satzes nahm er mit in den Schlaf hinüber.
Dicht an dicht füllten die Gläubigen den Kirchenraum. »Salve Regina, mater misericordiae, vita dulcedo et spes nostra, salve …« Der Gesang trug ihre Herzen zu den Aposteln im Hauptschrein, und mit den Blicken wurden sie selbst ein Teil des Geschehens. »Ad te clamamus, exsultes …«
Meister Til stand mit seinen beiden Helfern eng an der linken Kirchenwand, nicht um ihr Schnitzwerk oder gegenüber die Kanzel besser zu sehen, von hier aus war es möglich, alle Gesichter unauffällig zu beobachten, und die innige Andacht erfüllte sie mit Stolz.
Unvermittelt fühlte Til sich gestört, er wandte den Kopf und begegnete in der dritten Reihe dem Blick der Haushälterin. Ohne ihr lautes Singen zu unterbrechen, nickte sie eifrig, deutete auf das rechte Bild im Fußschrein, hob wissend den Finger, strahlte, und vibrierend trug sie das O hinauf und gab danach dem »dulcis virgo Mariae« allen dunklen Schmelz ihrer Stimme.
Meister Til verneigte sich leicht, er hatte die Zeichen verstanden. Die gute Seele des Pfarrers von Creglingen war am Morgen, beim Ausschmücken der Herrgottskirche mit Kerzen, vor diesem Reliefbild stehengeblieben. »Wer ist das, Meister?«
»Der zwölfjährige Jesus im Tempel.«
»Den mein ich nicht. Ich mein den hier, hinter dem, der auf dem Stuhl hockt.« Sie deutete auf die Figur am rechten Bildrand.
Til sah nicht hin, sagte nur beiläufig. »Irgendein Schriftgelehrter.«
»Ein Schriftgelehrter schon.« Sie führte die Kerzenflamme näher an die Figur. »Aber nicht irgendeiner. Den hier kenne ich.« Über die Schulter blickte sie zum Meister auf. »Das Barett, die Locken und der Mund …« Während sie den Schriftgelehrten kurz noch einmal prüfte und danach ihn erneut betrachtete, fühlte Til die Wärme vom Hals hinaufsteigen.
»Die gleiche Schaube. Und an den Augen sehe ich’s auch.« Von der Schlussfolgerung selbst überrascht, musste sie erst die Kerze auf der steinernen Altarplatte absetzen. »Seid Ihr das? Der Schriftgelehrte da im Tempel?«
»Nicht so laut, bitte!« Er blickte sich nach dem Küster und den anderen Frauen um. »Keine Aufregung deswegen. Weißt du, Bildschnitzer arbeiten nach Vorlagen, mal ist es ein Kupferstich eines Malers und hin und wieder …« Er hüstelte leicht. »Nun ja, manchmal genügt auch ein Spiegel.«
Seine Umschreibung führte gleich ins Ziel. »Da habt Ihr Euch selbst nachgemacht. Heilige Maria, dass Ihr so was könnt. Und ich behalte es für mich, das verspreche ich.« Die geheime Mitwisserschaft war ein noch größeres Glück, und seitdem suchte sie während der Messe, so oft es möglich war, den Blick des Meisters.
» … ad resurrectionis gloriam perducamur. Per Dominum.«
Nach der Messe umringten die Stadträte von Creglingen den Bildschnitzer draußen vor der Herrgottskirche. »Ihr seid Euer Geld wirklich wert.« »Um den Altar wird uns Rothenburg beneiden.« Nach dem allgemeinen zufriedenen Gelächter folgte gleich die spitze Frage: »Oder plant Ihr etwa, unseren Altar auch für die Rothenburger zu schnitzen? Die haben schon zwei von Euch.« Ehe der Meister sich äußern konnte, nistete die Vorstellung bereits in einigen Köpfen. »Das darf nicht geschehen.« »Dann wollen wir unsere Gulden zurück.« Schärfer wurde der Ton. »Schwört es!« Das Gekläff schwieg.
Til rieb die buschigen Brauen; wie bei uns im Rathaus, dachte er, einer fragt was, und die andern
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