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Riemenschneider

Riemenschneider

Titel: Riemenschneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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glauben, dies sei schon die Antwort. Er blickte in die angespannten Gesichter. »Beruhigt Euch, werte Herren. Es gibt keinen zweiten Auftrag. Dieser Marienaltar gehört in diese Kirche. Und einzig dort, genau über der Stelle, an der die Heilige Hostie gefunden wurde, darf er stehen. Denn eine Kraft …«
Dunkle Schatten zogen über die Gräber hinweg. Til blickte zum Himmel, mehr und mehr Wolken drängten von Westen her, sogleich wurde ihm der Mund trocken. O Herr, zieh Deine Hand nicht von mir, erst nach dem Stoßgebet sprach er mit weniger fester Stimme weiter: »Zum Zeichen, dass dies die Wahrheit ist, bitte ich den Herrn Pfarrer, den Bürgermeister und alle Herren des Stadtrates … auch jeden Christen der Stadt … heute am späten Nachmittag noch einmal in die Kirche. Zu einem stillen Gebet. Lasst uns dann gemeinsam Gott und alle Heiligen bitten, diesen Marienaltar anzunehmen.« Er wartete das Kopfnicken ab. »Geläutet werden muss zur vollen sechsten Stunde. Nicht später, darum bitte ich.«
Einverstanden. Die ernste Miene des Bildschnitzers erlaubte den Stadtvätern keine Nachfrage, selbst der Pastor fügte sich, und die Haushälterin vergaß, dem Meister im Vorbeigehen ihren wissenden Blick zu zeigen.
Nein, Til wollte nichts essen. Mit langen Schritten ging er zwischen den Gräbern auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Immer wieder hob er die Augen, suchte im dahintreibenden grauen Meer nach Himmelsflecken. »Weniger werden es.« Er seufzte und setzte wie ein Gefangener seine ziellose Wanderung fort.
Von der Bank aus beobachteten ihn die Helfer. Rupert fuhr mit dem Finger die Narbenspur an seinem Hals nach. »Ich dachte, wir könnten uns heute freuen«, flüsterte er. »Weil wir es geschafft haben.«
»Dacht ich auch.« Tobias reinigte sein Messer von Fett- und Fleischresten. »So unruhig hab ich ihn selten gesehen. Nicht einmal vom Wein hat er getrunken.«
Als erste Tropfen fielen, erlahmte der Schritt, als ein heftiger Sommerschauer niederprasselte, sanken die Schultern, und Til schleppte sich abseits von seinen Männern unter das vorspringende Dach. Ist das schon Deine Antwort, Herr?, fragte sein Blick nach oben. War ich zu vermessen? Er wartete, wurde zur Statue, während Regenbäche große Pfützen vor seinen Füßen bildeten. Um die fünfte Stunde dann klarte der Himmel auf, und mit ihm erhellte sich auch die Miene des Meisters wieder.
Pünktlich setzte das Läuten ein. In der späten Sonne dampfte das Schindeldach. Zu Fuß oder zu Pferd waren sie gekommen, Alte und Gebrechliche waren auf dem Ochsenkarren gebracht worden, die Gemeinde von Creglingen hatte sich erneut in der kleinen Kirche am Herrgottsbach eingefunden.
Keine Kerzen brannten, darum hatte Meister Til gebeten.
Nur wenige Worte sprach der Pfarrer zur Begrüßung, gemessenen Schritts verließ er den Altar und gesellte sich zu Bürgermeister und Bildschnitzer in die vorderste Reihe.
Stille, erfüllt von Andacht und Frieden, nahm Einkehr. Alle Augen waren auf den Altar gerichtet, sie suchten und fanden Ruhe im milden Halbdunkel des Schnitzwerkes.
Ein Lichtstrahl. Er fiel durch das geschliffene Auge in der Westwand und berührte die Hände der Heiligen Mutter. Seufzen, die Gläubigen sanken auf die Knie. Als öffnete sich weit entfernt der Himmel, so umfasste die Helligkeit nach und nach die ganze Gestalt. Im Widerschein umschwebten sie helfende Engel. Das Licht färbte sich und trug Maria mit seiner glühenden Kraft hinan. Vom Ackerboden aufgehoben, entschwebte sie dem Blick der Apostel, entstieg der Kapelle des Schreins und fand auf dem Strahl der sinkenden Sonne den Weg durch die Rosenranken zur Höhe, ehe der Himmel sich wieder schloss.
Die Bürger von Creglingen harrten im Schatten aus. Erst nach tiefem Atmen fand der Pastor seine Fassung zurück. »Maria ist gen Himmel gefahren«, flüsterte er, wurde lauter: »Mariä Himmelfahrt. Wir haben teilgenommen.«
»Ein Wunder.« Der Bürgermeister schlug sich mit der Faust gegen die Brust, als müsste er dem Erlebten Einlass verschaffen. »Ja, ein Lichtwunder ist geschehen.«
Meister Til hatte das Gesicht erhoben. Er blickte zur Rosette des Westfensters, dann hinauf zum Gewölbehimmel. »Großer Gott, hab Dank, dass meine Berechnungen stimmten. Vor allem aber sei gepriesen, dass Du den Regen rechtzeitig verjagt hast.«

18

U nruhig zuckte die Kerzenflamme. Aus den Gedanken gerissen, hob Martin Luther die Augen vom noch leeren Blatt, gleich ging sein Atem schneller, vor ihm

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