Riesling zum Abschied
Müdigkeit brauchte er jemanden zum Reden. Aber die Wohnung war leer, der Anblick des leeren Kühlschranks niederschmetternd. Er dachte an die grauenvolle Nacht zurück, an das Mädchen mit den schönen Augen – und an die drei Schläger.
Er würde sie alle wegen versuchten Mordes anzeigen, dann würden die beiden Heinzelmännchen ihre Kapuzen schon abnehmen und ausspucken, wer der dritte war.
Soll ich eine Flasche Wein öffnen und mich betrinken oder mir lieber einen Tee machen?, fragte sich Thomas und entschied sich für Tee. Regine hatte immer etwas im Haus. Er dachte an das Mädchen. Beherzt war sie gewesen, auf die Drohung hin hatte sie nur gelacht. Dass sie in Jeans und Jeansjacke so zerbrechlich gewirkt hatte, lag an den elend hochhackigen Stiefeln, diesen Tick hatten anscheinend alle Osteuropäerinnen. Aber Angst hatte sie keine, das imponierte ihm. Ihre Augen waren nah gewesen, als sie ihm das Blut von der Stirn getupft hatte, wasserblau, klar und schön, wie ihr Gesicht auch, so schmal, so besorgt und die Lippen so nah ...
Er goss den Tee auf und fischte den zerknautschten Zettel mit ihrem Namen und der Telefonnummer aus der Hosentasche und strich ihn glatt. Auch er trug Blutflecken wie seine Jacke. Kamila Szymborska. Wo kam sie her? Kamila – das gefiel ihm. Er würde sie morgen anrufen. Oder war das zu aufdringlich?
Gedankenverloren starrte er aus dem dunklen Küchenfenster und sah auf der Fensterbank darunter die Flaschen von Schönborn. Sollte er sie jetzt wieder probieren? Dann käme er von diesem Horrortrip runter.
|277| Die Weine waren bedeutend besser als gestern, sie waren jetzt erst da, alle hatten durch den Kontakt mit Luft gewonnen. Diese Rieslinge gehörten in eine Kategorie, an der sie sich orientieren mussten.
Alle vier hatten sich entwickelt, der Berg Schlossberg zeigte ein für den Riesling typisches Aroma, und auch seine Mineralität war deutlicher. Auch der Pfaffenberg wirkte ruhiger, dicht und geschmeidig, und die Säure verlor die Spitzen. Der Marcobrunn aber brauchte noch immer etwas Zeit. Es wäre schade, so einen Wein zu öffnen und gleich zu trinken, nur die Verkäufer hatten etwas davon. Diese Weine, obwohl weiß, sollten dekantiert werden, besonders wenn sie so jung waren wie diese. Der Marcobrunn wird sich bei der nächsten Probe erst richtig zeigen, sagte sich Thomas, verkorkte die Flaschen, spülte die Gläser nur aus und schleppte sich zerschlagen ins Bad.
Seinem Vater würde er nichts von dem Überfall erzählen, der würde sich nur sorgen. Wozu ihn beunruhigen? Er besprach sich besser mit Johanna Breitenbach, sie war mit allem vertraut, sie kannte die FH. Verdammt, wer hatte die drei Kapuzen geschickt?
Beim Blick in den Badezimmerspiegel glaubte er, einen Fremden vor sich zu sehen, so entstellt wie er war, und wusch sich vorsichtig das Gesicht. Unschlüssig blieb er dann vor Manuels Tür stehen – und trat ein.
Am Fenster stand der Schreibtisch, daneben das Klavier, in der Ecke lehnte hochkant das neue Keyboard. Darauf durfte Manuel im Gefängnis nicht spielen, es war USBfähig, wie es hieß, man konnte wer weiß nicht was darauf speichern, es funktionierte ähnlich wie ein Rechner. Aber in dem Fall, sagte sich Thomas, wird jede Datei mit der Zeit ihrer Erstellung und Bearbeitung gekoppelt. Hatte Manuel es nicht an jenem Wochenende eingeweiht? Dann musste die Zeit gespeichert sein.
|278| »Treffen wir uns im Backshop vom Supermarkt in Oestrich?«, fragte Thomas Johanna auf dem Weg zur Bibliothek. »Nach der Sensorikveranstaltung brauche ich einen Kaffee.«
Eine Stunde später standen Johanna Breitenbach und er am runden Tisch vor dem Fenster. Thomas berichtete vom Überfall.
»Wer kommt auf so eine niederträchtige Idee?« Die Dozentin war zutiefst entsetzt. »Drei Leute, um Sie zu verprügeln, und dann noch das mit dem Messer? Das war ein Mordversuch.«
»Das sehe ich anders. Es war ein Ausrutscher. Der Angriff mit dem Messer war nicht geplant. Der Typ ist durchgedreht und hatte Angst.«
So gelassen sah er es selbst nicht. Er hatte kaum geschlafen, war morgens zum Arzt gegangen, hatte sich seine Verletzung attestieren und die Wunde nähen lassen. Der nächste Schock war, dass seine letzte Klausur verschwunden war. Der Dozent ließ nicht mit sich reden, Thomas würde sie wiederholen müssen, er hatte nur noch eine Chance. Auch sein Vater meckerte mit ihm. Auf den Einwand, dass sich alles sofort normalisieren würde, wenn Manuel aus dem Gefängnis
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