Riesling zum Abschied
sonderlich. »Da müssen Sie durch, Thomas, wenn Sie es ernst meinen. So ist das heutzutage. Seien Sie froh, dass man nicht mit Fingern auf Sie zeigt. Außerdem ist das nur virtuell. Um es laut zu sagen, fehlt diesen Leuchten der Schneid. Sie verstecken sich hinter ihren Laptops und iPhones der vierten Generation. Vor der Wirklichkeit, vor dem, was sich anfassen lässt, haben alle die Hosen voll.« Johanna trank den kalten Rest vom Milchkaffee. »Richten Sie bitte Ihrem Vater aus, dass an der FH nächste Woche die Betriebsleitertagung stattfindet. Er muss sich schleunigst anmelden.«
»Kann ich da nicht hingehen?«, fragte Thomas, der seinem Vater die Fahrt hierher ersparen wollte.
»Seit wann sind Sie der Betriebsleiter?«
Einen Moment lang erwog Thomas, wie er Johanna die Zurechtweisung zurückgeben konnte. Er blickte durch die Scheibe des Supermarkts nach draußen. Ein Mann dort auf dem Parkplatz brachte ihn davon ab und auf etwas ganz anderes.
»Kennen Sie das Spiel ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹?«
Johanna Breitenbach sah ihn verständnislos an. »Natürlich.«
»Dann drehen Sie sich bitte auf keinen Fall um. Da steht jemand und fotografiert den Supermarkt.« Während er dies sagte, rührte er mit dem Plastiklöffel weiter in seinem Kaffeepott. »Was gibt es an diesem bekloppten Backshop zu fotografieren – außer uns? Wir stehen in Blickrichtung seines Objektivs. Hätten Sie Lust auf eine Weinprobe? Gehen Sie zu Ihrem Wagen und fahren Sie zu Künstler nach Hochheim. Er ist wirklich ein Künstler. Wir treffen uns vor der Kellerei. Regine wollte auch kommen, doch die können wir wohl abhaken.«
»Und was haben Sie vor?« Johanna neigte den Kopf in |282| Richtung des Fotografen. »Wollen Sie wieder jemanden verprügeln?«
»Nur zu gerne. Vielleicht ist es der Fotograf von neulich. Nein, die Straßenkämpfe reichen mir, ich brauche nur seine Autonummer, den Rest soll die Polizei machen. Ich glaube, mit dem Staatsanwalt kann ich inzwischen umgehen. Er wird neugierig.«
Thomas tat, als binde er seinen Schuh zu, und schlich gebückt aus dem Supermarkt. Neben dem Automaten zur Flaschenrückgabe gelangte er in die angrenzende Lagerhalle und von dort aus ins Freie. So konnte er den Mann mit der Kamera umgehen. Der sah sich verständnislos um, als Johanna allein aus dem Supermarkt kam. Er steckte die Kamera weg, folgte Johanna kurz und ging dann unschlüssig zu seinem Wagen. Thomas notierte die Nummer: Sie begann mit MZ – das stand für Mainz. Eine weitere Spur ...
|283| 16
Nach außen hin wirkte das Weingut auf Johanna wie alle anderen Rheingauer Weingüter ziemlich verschlossen, trotz des schönen Bewuchses seiner Fassade und des einladenden Rundbogens. Wollte sich niemand in die Karten beziehungsweise in die Fässer blicken lassen? Durfte keiner wissen, was wirklich in den Kellern geschah, und nur das zu sehen beziehungsweise zu riechen und zu schmecken bekommen, was eingeschenkt wurde? Unsinn – Johanna wehrte sich gegen ihre paranoiden Gedanken. Sie ließ sich von den Geschehnissen und Achenbach zu sehr beeinflussen. Sicher entsprang ihr Eindruck nur der überkommenen Bauweise des 17. und 18. Jahrhunderts.
Als Manuel Sterns Wagen mit Achenbach hinter dem Lenkrad neben ihr parkte, sah sie das Ausmaß des Lackschadens. Die gesamte linke Seite war vom vorderen Kotflügel bis zur Heckleuchte aufgekratzt, der Schraubenzieher war sogar ins Blech eingedrungen. Die Reparatur würde teuer werden, Manuel Stern würde es kaum kratzen. Sein Geld nutzte ihm momentan allerdings ziemlich wenig, im Gegenteil, es wurde als möglicher Grund für die bestehende Fluchtgefahr gewertet. Johanna erinnerte sich, wie sie vor vielen Jahren nach einer Protestaktion im Kaiserstuhl festgenommen und eingesperrt worden war. Das dumpfe Scheppern der hinter ihr zugeschlagenen Zellentür würde sie niemals vergessen – genauso wie das Gefühl des Ausgeliefertseins. |284| Die Polizisten hatten sie am nächsten Tag wieder entlassen, aber Manuel war seit Wochen hinter Gittern.
Vor dem Tor warteten sie auf Regine. Sie hatte Thomas angerufen, sie wollte unbedingt mitkommen, die Gelegenheit, Künstlers Weine zu probieren, durfte sie sich nicht entgehen lassen. Mit hochrotem Kopf kam sie angetrabt.
»Thorsten wollte nicht kommen?«, fragte Thomas provozierend.
»Manchmal bist du ein arrogantes Ekel«, zischte sie. »Und ich werde nicht ausziehen, und wenn ich Teller spülen gehe – bevor ich dir diese Unart abgewöhnt
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