Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Grote
Vom Netzwerk:
Mord findet man immer im Leben des Opfers.«
    Darum ging es, um das Motiv. Weshalb war sie umgebracht worden? Er hatte bei ihr immer auf das geachtet, was ihn störte, und das war viel, aber nichts davon wäre für ihn ein Grund gewesen, ihr zu schaden. Auf Dauer jedoch wäre ein handfester Krach unvermeidlich gewesen, hätte sie Manuel weiter ausgebeutet und ihn von der Pfalz ferngehalten, oder wegen ihrer dämlichen Sprüche.
    »Wozu sich die Hände schmutzig machen? Dafür hat man schließlich Personal.«
    Manuels Wagen fasste Thomas heute nicht mehr an. Für sein Vorhaben war das Fahrrad geeignet. Es hatte kein Nummernschild, und wenn er es zu anderen stellte, würde sich niemand daran erinnern.
    Sein Ziel war eines der beiden Hochhäuser, die ein besonders pfiffiger Rechtsanwalt hatte bauen lassen, bevor ihm Geisenheims Gemeinderat weitere Sünden untersagt hatte. Sie würden bis weit in die Zukunft Geisenheims Skyline und die des Rheingaus verschandeln. Thomas’ Bestreben, auf dem Weg nicht gesehen zu werden, kam der Umstand entgegen, dass nur auf der rechten Straßenseite kleine Häuser standen und am Nachmittag eines Wochentages niemand |133| im Garten werkelte. Auf der linken Seite stieg das Gelände zum Rothenberg hin steil an, alles Riesling, eine Rebzeile begrünt, die andere nicht. Die Lage war längst nicht so berühmt wie der Kläuserweg, der sich östlich anschloss. Die Rebzeilen endeten an einer Plattform auf dem Gipfel, wenn man die Kuppe des Hügels so nennen wollte. Sie war von einem Kreuz gekrönt und von Bäumen eingefasst. Ob es ein Mahnmal war, eine Gedenkstätte oder das Grab eines Würdenträgers, der sich um wer weiß was verdient gemacht hatte, wusste Thomas nicht. In den anderthalb Jahren hier hatte er bislang noch keine Veranlassung gesehen, hinaufzugehen. So lebte man in Nachbarschaft von Objekten, deren Bedeutung sich verschloss. Mit den Menschen war es nicht anders. Man kam ihnen nahe und blieb ihnen trotzdem fern. Sie waren knapp hundert Studenten im Semester, im Grunde ein kleiner Haufen, aber was wusste er schon von den anderen?
    Zwei Autos überholten ihn, er beugte den Kopf weit über den Lenker, sein Ziel hätte er blind gefunden. Er bog in die Garageneinfahrt ein. Neben den Mülltonnen standen wie erwartet Fahrräder, so viele, dass eines mehr niemandem auffiel. Er drehte sicherheitshalber noch eine Runde um den Block, auch um einen anderen Weg für den Rückweg zu finden. Schließlich stellte er das Fahrrad zu den anderen und ging zum Eingang des vorderen Hochhauses. Er klemmte einen Packen Werbebroschüren unter den Arm, ein Zeuge würde sich an den Prospektverteiler erinnern.
    Er steckte den Schlüssel ins Schloss – und atmete auf. Er hatte sich nicht geirrt, der Schlüssel passte zur Haustür. Dann würde der zweite das Apartment öffnen. Vor den Briefkästen blieb er stehen, fingerte im Briefschlitz, aber er kam nicht an die Briefe heran. Mit einem Papiertaschentuch wischte er seine Fingerabdrücke weg und machte sich zu Fuß auf in den sechsten Stock.
    An der Tür von Alexandras Apartment klebte das Siegel |134| der Polizei. Die Entscheidung, es aufzubrechen, hatte er längst getroffen, aber es tatsächlich zu tun, war etwas anderes. Niemand war auf dem Flur. Er ging lauschend an allen Türen vorbei, nirgends vernahm er ein Geräusch, keine Musik, keine Fernsehstimme, es herrschte Grabesstille im ganzen Haus. War so auch der Mörder unerkannt gekommen und wieder verschwunden? Jetzt musste es schnell gehen. Thomas zog die Gummihandschuhe über, setzte die charmante Badekappe auf und steckte den zweiten Schlüssel ins Schloss. Er passte. Als er das Siegel zerreißen wollte, löste es sich fast von allein – es war bereits erbrochen, und jemand hatte es von hinten mit einem Klebestreifen geflickt. Wer wagte so etwas? Sechser sicher nicht, der hätte ein neues Siegel dabei gehabt!
    Thomas bekam eine Gänsehaut. War es der Mörder gewesen, der nicht alle Spuren beseitigt hatte? War jemand in der Wohnung?
    Er trat ein und zuckte zusammen. Vor ihm stand – verdammt, es war sein Spiegelbild, der mannshohe Spiegel neben dem Garderobenständer hatte ihm den Streich gespielt. Lächerlich, wie er da stand, mit der Duschhaube, den Gummihandschuhen und der Windjacke. Nein, die Nerven für eine Karriere als Verbrecher hatte er nicht.
    Alexandras Geruch hing in der Wohnung, und ihr schwarzes Cape befand sich an der Garderobe, was in Thomas die alte Abneigung wachrief. Nein, er

Weitere Kostenlose Bücher